Prolog

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Weißt du, dass ich immer an dich denken muss?

Diese eine Nacht! Sie lässt mich nicht mehr los!



Greta starrte auf den Zettel, den sie heute Morgen gefunden hatte. Er war am Rande der Eiswüste auf einen Felsen gelegen. Die Tinte war schon ein wenig verlaufen, aber man konnte noch alles lesen.

Wer hatte den Zettel dort hingelegt?

Sie war schon mehrere Male an diesem Felsen vorbeigekommen, aber sie hatte diesen Zettel noch nie bemerkt.

Er war ungewöhnlich!

Hier, in der Eiswelt, schrieb man auf Leder oder auf Rinde. Nur die Dorfältesten hatten Papier und das wurde gehütet wie ein Schatz. Für so eine Nachricht würden sie Papier nicht wirklich hergeben. Aber dieser Zettel, er bestand wirklich aus Papier. Deswegen hatte sie ihn auch beinahe übersehen. Er war weiß, beinahe so weiß wie der Schnee, der hier überall lag. Greta hatte ihn nur zufällig mit der Hand berührt. Neugierig hatte sie ihn betrachtet und ihn dann in das Innenfutter ihrer Jacke versteckt. Sie wusste genau, wenn einer ihrer Brüder diesen Zettel finden würde, dann wäre er weg. Wahrscheinlich würde er den Flammen zum Opfer fallen und Greta würde bestraft werden, weil sie ihn behalten hatte. Außerdem würden sie dann auch mitbekommen, dass sie lesen konnte. Und das würde weitere Strafen nach sich ziehen.

Nein, Greta war ein Mädchen, beinahe eine Frau. Sie durfte nicht klug sein, sondern den Männern gehorchen.

Die Eiswelt war von Männern beherrscht. Frauen hatten hier nichts zu sagen. In den Augen der Männer war jede Tochter ein Ärgernis. Jede Schwester war zu nichts zu gebrauchen, außer Söhne in die Welt zu setzen. Sollte die Frau es wagen, einer Tochter das Leben zu schenken, wurde sie geächtet. So war es Gretas Mutter geschehen, obwohl sie Gretas Vater fünf gesunde Söhne geschenkt hatte.

Gretas Vater hatte seine Frau in die Eiswüste geschickt, kaum dass Greta den Haushalt alleine versorgen konnte. In der Zeit durften weder Gretas Vater, noch ihre Brüder mit der Mutter reden. So verlangte es das Gesetzt. Die Männer durften sie zwar benutzen, aber sie die Geächtete durfte das Ansehen der Söhne und des Mannes nicht beschmutzen. Greta war die Einzige, die mit ihr geredet hatte.

Alle Bewohner des Dorfes waren dabei gewesen als ihre Mutter verbannt wurde. Die Frauen hatten traurig geschaut, aber sie konnten nichts dagegen tun. Die Männer hatten gelacht und ihre Mutter mit Steinen beworfen, bis sie nicht mehr zu sehen war.

Ihre Brüder waren ruhig gewesen. Genau wie ihr Vater. Stoisch hatten sie der Frau nachgeschaut, die ihnen jahrelang gedient hatte.

Greta erinnerte sich noch, wie ihre Mutter ihren Vater lange angesehen hatte, bis ein Stein ihre Schulter getroffen hatte. Er hatte nichts zu ihr gesagt. Kein Wort des Abschiedes. Kein Dank für die jahrelange Arbeit. Nichts.

Irgendwann hatte sie sich umgedreht und war gegangen.

Greta hatte ihr hinterhergerufen, doch sie wurde von einer anderen Frau, einer Nachbarin, festgehalten, als Greta ihr nachlaufen wollte.

„Sei vernünftig, Mädchen! Sie wird sterben! Noch heute Nacht! Und wenn du ihr folgst, wirst auch du sterben!"

Damals hatte Greta Ruhe gegeben. Sie wollte nicht sterben! Sie war erst sieben Jahre alt gewesen!

Aber nun, da sie siebzehn war, erschien ihr der Gedanke an den Tod nicht mehr so schlimm!

Sie seufzte leise und strich sanft über die Schrift.

Ihr Vater war in der Nacht auch verschwunden. Er war der Frau gefolgt, die er liebte und hatte damit die ganze Familie in Verruf gebracht.

Es war Männern nicht gestattet Gefühle zu zugeben. Und das hatte ihr Vater getan, in dem er seiner Frau folgte.

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