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Mit ziemlich großer Sicherheit hatte das Pech schon sehr früh Einzug in mein Leben erhalten. Eigentlich schon bevor ich überhaupt geboren wurde, denn damals war ich nicht alleine. Ich hätte einen Zwillingsbruder gehabt, doch dieser war bei der Geburt gestorben, da die Nabelschnur sich um seinen Hals gewickelt hatte. Der Nachbarsjunge mit dem ich als Kleinkind immer gespielt hatte, fand das Versteck der Waschmittelpackung und fand ihren Inhalt wohl so appetitlich, dass er daran starb.
Als ich in die Grundschule kam, adoptierte meine Familie einen Hund, ein kleiner hellbrauner Mischlingsrüde aus dem Tierheim. Er war eine wahre Frohnatur und hellte die Stimmung eines Jeden auf, der ihn sah - bis er fünf Wochen, nachdem er zu uns gekommen war, von einem Auto überfahren wurde.
Etwa zwei Jahre später, starb meine große Schwester bei dem Versuch, mich aus unserer brennenden Küche zu retten. Sie hatte mir etwas kochen wollen, doch der neue Herd hatte einen technischen Defekt, der zur Flammenbildung führte. Sie selbst war erst elf und total überfordert, als dann auch noch die Tür des Altbaus, in dem wir damals wohnten, einfach nicht aufgehen wollte, brach sie in Panik aus. Sekunden nachdem ihr kleines Herz aufgehört hatte zu schlagen, traten die Feuerwehrmänner die verkeilte Tür ein und  erreichten mich schnell genug. Für meine Schwester war es zu spät.
Meine Eltern und ich mussten umziehen, mit dem alten Haus ließ ich auch die Erinnerungen an meine Schwester zurück, deren Gesicht ich mir heute nur noch verschwommen vorstellen kann.
Vor drei Jahren wurde bei meinem Vater Lungenkrebs diagnostiziert, die Ärzte gaben ihm noch ein Jahr. Er schaffte nicht einmal die Hälfte. Natürlich verbockte ich selbst auch eine Menge, aber so viel Pech kann kein Zufall sein, oder?
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Es war Montagmorgen, zu früh um wirklich wach zu sein, und trotzdem quälte der braunhaarige Junge sich aus dem durchgelegenen Bett, über dessen Rand seine Füße hinausragten, wenn er sich darin ausstreckte. Er brauchte kein Licht, um sich in dem kleinen Raum zurechtzufinden, und das war auch gut so, denn dann war die Chance, dass sein Vater ihn bemerkte, deutlich geringer. Wahrscheinlich würde Hektor noch bis in den Mittag schlafen und sich dann im nächstgelegenen FastFood-Restaurant drei Burger genehmigen, bevor er den ganzen Abend vorm Fernseher verbrächte. Mit etwas Glück würde er dabei nur drei, vier Bier trinken. Wenn es schlecht lief - und das tat es meistens - dann stünde am nächsten Morgen eine halbleere Wodkaflasche auf dem hölzernen Fernsehtischchen.

Nachdem Ardy sich also angezogen und für die Schule fertig gemacht hatte, beseitigte er das Chaos, das sein Vater am Vorabend hinterlassen hatte, als er sturzbesoffen in sein Zimmer gewankt war und es dort nicht einmal geschafft hatte, sich zuzudecken. Um das zu wissen musste Ardy nicht einmal das Schlafzimmer betreten, denn Hektor war es nicht einmal gelungen, sich in sein Bett zu legen. Er war in sich zusammengesunken und lag seltsam verdreht auf dem uralten Teppichboden. Dieser Anblick weckte in Ardy Bedauern, denn der Mann, der dort wie ein Obdachloser schlief, war derselbe wie der, der vor ein paar Jahren noch mit ihm Wandern gegangen war und ihm Klettern beigebracht hatte. Damals hatte Hektor nur ab und zu ein Bier zu viel getrunken. Vielleicht war ihm das ein oder andere Mal auch die Hand ausgerutscht, keine wirkliche Tragödie. Doch anscheinend schlimm genug für Ardys Mutter, ohne Hinweise auf ihren weiteren Verbleib einfach ihre Sachen zu packen und ihre Familie zu verlassen. Das hatte Hektor dermaßen erzürnt, dass er am nächsten Morgen den einzigen Menschen, der auffindbar war, grün und blau schlug - und der war nun mal sein zwölfjähriger Sohn. Dass es seiner Mutter anscheinend egal war, dass ihr "Lieblingssohn", wie sie ihn immer genannt hatte, nun alleine mit dem Mann war, wegen dem sie geflüchtet war, war Ardy schmerzlich bewusst. Obwohl er versuchte, es auf ihren Charakter oder ihre aussichtslose Lage zu schieben, nagte die Tatsache, schon so früh zurückgelassen geworden zu sein an seinem Selbstbewusstsein. Wie wenig war ein Mensch wert, den selbst die eigene Mutter verstieß?

Ardy verließ das Haus und lief in Richtung Schule. Nach etwa fünf Minuten Fußweg entdeckte er in der Ferne eine magere Gestalt, die lässig an der Fassade einer Augenarztpraxis lehnte. Seine Schritte beschleunigten sich und er legte das letzte Stück, das ihn von der Person trennte, joggend zurück. "Yo, Ardy", wurde er von dem Jungen begrüßt, dessen pechschwarze Kleidung seiner Haarfarbe entsprach. "Sorry, dass ich so spät bin, musste zuhause noch was aufräumen", entschuldigte Ardy sich direkt und versuchte währenddessen, seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. "Wow, du hast ja fast noch weniger Kondition als ich", kommentierte Tommy grinsend und setzte sich langsam in Bewegung, ohne wirklich auf die Worte seines Freundes einzugehen. Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her, bis Tommy plötzlich vorsichtig fragte, ob Ardy den Anime, den er ihm empfohlen hatte, bereits angesehen hatte. Auf Ardys Verneinung diesbezüglich, reagierte der 20-Jährige ein wenig pikiert, was ihn jedoch keineswegs davon abhielt, von irgendeiner anderen japanischen animierten Serie zu erzählen. Früher hatte Ardy tatsächlich relativ viele Anime geschaut, sogar ein paar Manga hatte er in seinem Regal stehen. Aber seit Kurzem fand er kaum Zeit und Motivation, sich Filme oder Serien anzusehen, was Tommy anscheinend nicht verstehen wollte - oder es war ihm schlichtweg egal.

Ardy mochte Tommy wirklich. Wirklich. Vielleicht lag es an dem Altersunterschied von immerhin fast 5 Jahren, dass sie hin und wieder verschiedene Ansichten teilten. Der Schwarzhaarige war ausgesprochen sympathisch, doch Ardy wusste, dass der Andere sehr auf sich selbst fokussiert war. Das konnte man ihm jedoch keineswegs verübeln, wenn man seine Vorgeschichte kannte. Tommy war drei Jahre lang depressiv gewesen, was auf seinen Armen deutlich zu sehen war. Dies war auch der Grund, warum er fast immer langärmelige Oberteile trug, sogar im Sommer, wenn wie jetzt bereits um 7:45 knapp zwanzig Grad herrschten.

Auf jeden Fall war er wie immer ein wenig erleichtert, als Tommy sich verabschiedete. Der Ältere hatte noch sieben Minuten Fußweg vor sich, bevor auch er an seiner Bildungsinstitution ankäme, einer Berufsschule Kölns. Ardy selbst betrat gerade nach dem anstrengenden Aufstieg zweier Treppen keuchend seinen Klassensaal und ließ sich auf seinen Sitzplatz fallen, ohne seine Mitschüler groß zu beachten. "Hello, Dyzzy", empfing Luna ihn lächelnd und versuchte ihn von einer Umarmung zu überzeugen, die er jedoch hastig ablehnte. Seine Rippen schmerzten immer noch höllisch von Freitagnacht, was ihn so langsam glauben ließ, dass mindestens eine von ihnen geprellt war. Eine Umarmung würde eine Schmerzwelle auslösen, der er so früh am Morgen definitiv noch nicht gewachsen war. Etwas beleidigt musterte Luna ihn mit verschränkten Armen, vergaß jedoch schnell ihre eigentliche Stimmungslage und schlug ihm aufgeregt auf die Schulter. Unvorbereitet auf diese Berührung zuckte Ardy zusammen, ließ sich jedoch nichts anmerken, auch wenn er am liebsten aufgeschrien hätte vor Schmerz. "Hast du es mitbekommen?" Luna schien sehr aufgewühlt zu sein, was den Braunhaarigen aufs Äußerste verwirrte. "Was soll ich denn mitbekommen haben?", entgegnete er, darauf bedacht, seinen genervten Tonfall zu verbergen, der zum Teil auch der frühen Uhrzeit zuzuschreiben war. "Wir bekommen endlich einen!" Freudestrahlend sah das Mädchen ihn an und er erwiderte ratlos ihren Blick. "Was, einen Hund?" "Laber keinen Müll", sie machte eine kleine Kunstpause, wie sie es oft zu tun pflegte, "einen neuen Schüler natürlich, du Idiot!"

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ja, ich lebe noch
-Ra

Pechjunge - [tardy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt