VIII

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"Und?"
Ardy sah Thaddeus gespannt dabei zu, wie dieser sich auf den Kieseln nieder ließ, die außerhalb der Reichweite des Wassers die Wärme der Sonne abspeicherten.
"Mein richtiger Name ist, wie bereits gesagt, Thaddeus. Ich komme eigentlich aus Hamburg und musste von meiner alten Schule runter. Naja, eigentlich bin ich freiweillig gewechselt, aber ansonsten wäre ich eh irgendwann rausgeworfen oder rausgemobbt worden."
"Wow, warte mal. Du wurdest gemobbt? Warum das denn?", unterbrach Ardy seine kleine Erzählung und erinnerte sich im selben Moment daran, dass sein Gegenüber ihm so gut wie fremd war und es ihn eigentlich gar nichts anging, ob Thaddeus gemobbt wurde oder nicht. Doch dieser antwortete bereits: "Ja. Zuerst wegen der Tattoos und der Haare."
Obwohl seine Formulierung eigentlich einen weiteren Grund einleitete, nannte er keinen.

Ardy entschied sich dagegen, weiter nachzuhaken, immerhin schien dieses Thema ein äußerst sensibles zu sein, sonst hätte Thaddeus den falschen Namen ja nicht nötig. "Und warum Daniel?" Vorsichtig grinste er den Blauhaarigen an, der nur mit den Schultern zuckte und dann antwortete: "So hieß der Typ, den ich ermordet hab." Die mit Schock gepaarte Verwirrung hatte wohl ihren Weg auf Ardys Gesicht gefunden, denn Thaddeus fing an zu lachen. Auch der Fünfzehnjährige musste breit grinsen und der Gedanke, dass der Neue gar nicht so übel war, wuchs mit der Dauer des Lachens.

Irgendwann, sie hatten sich ein wenig über die Schule unterhalten - eigentlich hatte sich Ardy nur über ziemlich viele Menschen beschwert und das Schulsystem kritisiert - ließen sich keine weiteren Themen mehr finden, die ein Gespräch wert gewesen wären. Also saßen sie nur schweigend auf dem Kiesboden und beobachteten Pipi dabei, wie sie umherflitzte und immer wieder schnuppernd ihre Nase in die Luft hob. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte Ardy schon vor einigen Minuten einen kleinen, runden Kiesel ergriffen, der seitdem stetig in seiner Handfläche umher wanderte. "Und du?" Ein wenig überrascht sah der Junge auf und begegnete Thaddeus' Blick, der wohl schon seit längerem nicht mehr auf dem Wasser, stattdessen aber auf ihm geruht hatte. "Mmh?", unsicher ob Thaddeus noch etwas anderes gefragt hatte, entschied Ardy sich für diesen Ausdruck seiner wissbegierigen Verwunderung. "Was ist mir dir?", konkretisierte der Blauhaarige seine Frage nicht unbedingt. "Was soll mit mir sein?", wollte Ardy  wiederum wissen; der Versuch, seine Unsicherheit mit Lachen zu kaschieren, scheiterte kläglich und endete in einem nervösen Lächeln. "Warum sitzst du alleine am Rheinufer und starrst aufs Wasser?"

"Tu ich gar nicht, du bist ja auch hier" wich der Angesprochene aus, bereits in dem Wissen, dass er diese Frage wohl oder übel beantworten müsste. Und tatsächlich fand er die Vorstellung gar nicht so schlimm. Vielleicht lag es an der Art, wie Thaddeus die Frage gestellt hatte, denn sie vermittelte keineswegs ein Gefühl des Erwischtwerdens. Vielmehr war sie voller Ironie und trotzdem war Ardy sich sicher, dass Thaddeus sich nicht über ihn lustig machte, dass er diese Situation selbst nur zu gut kannte. "Ach, was soll's", murrte der Jüngere mit einer wegwerfenden Handbewegung. "Ich kann nicht nach Hause."
"Warum?"
Es war völlig ausgeschlossen, dass der Blauhaarige auch nur einen Gedanken an eine schlechte Zugverbindung oder Ähnliches verschwendete, also blieb Ardy bei der Wahrheit.
"Mein Vater."
Thaddeus nickte, sagte jedoch nichts. Wieder schwiegen sie sich und die Welt an. Dann sprang der Blauhaarige plötzlich auf und pfefferte, "Scheiß Alkohol!" brüllend, eine handvoll Steine in den Rhein.

Ardy lehnte sich ein wenig zurück und betrachtete Thaddeus, der mit dem Rücken zu ihm gewandt aufs Wasser blickte. Offensichtlich hatte auch er schlechte Erfahrungen mit Ethanol gemacht. Und diese schienen ihn mindestens genauso zu belasten wie Ardy. Das plötzliche Verlangen zu lachen stieg in dem Fünfzehnjährigen auf, der sich kurze Zeit später glucksend auf dem warmen Kies umherrollte. Von der Veränderung der Geräuschkulisse veranlasst sich umzudrehen, erblickte er den sich krümmenden und nach Luft schnappenden Ardy. Thaddeus benötigte ein paar Sekunden, um zu verstehen, dass Ardy lachte. Dieser verstummte jedoch, als er in das Gesicht des Älteren sah; er fürchtete, dieser könnte den Eindruck bekommen, er lachte ihn aus. Einen Moment lang sahen sie sich nur in die Augen und warteten auf die Reaktion des Anderen. Dann begann Thaddeus zu lachen.

Es war das schönste Lachen, das Ardy je gesehen hatte. Die Sonne versuchte mit jeder Sekunde, die Thaddeus lachte, noch etwas heller zu scheinen, um jedes kleinste Detail an ihm zu beleuchten. Sein Lachen war nicht wirklich ansteckend und doch musste Ardy schmunzeln. Viel mehr erweckte es in ihm den Wunsch, seinen Verursacher anzusehen und nicht mehr wegzuschauen. Doch leider musste Ardy irgendwann doch seine Augen abwenden, da Thaddeus aufhörte zu lachen. Sein strahlendes Lächeln blieb allerdings noch, nachdem er längst verstummt war.

"Weißt du, wie ich in Hamburg von meinen Freunden genannt wurde?", wollte der Blauhaarige grinsend wissen, nachdem er sich wieder neben Ardy im Kies niedergelassen hatte; dieser schüttelte nur den Kopf. "Der gottverdammte Flitsch-King!"
Nun war es Ardy, der beinahe in Gelächter ausbrach, stattdessen deutete er jedoch eine Verneigung an und stieß gespielt erstaunt aus: "Oh, ich wusste gar nicht, dass ich es mit Eurer Majestät zu tun habe, verzeiht! Wie töricht von mir, meinen schäbigen Mund in Eurer Gegenwart zu öffnen!"
"Es sei dir verziehen, Bauerntrampel", näselte Thaddeus, der arrogant auf Ardy hinabblickte und diesem seine tätowierte Hand hinstreckte, "wenn du deinem gnädigen Herrscher die Hand küsst."

"Oh Majestät, wie überaus gnädig von Euch. Doch würde ich Euch bloß entwürdigen, berührte ich Eure reine Haut!", stammelte Ardy und versuchte krampfhaft, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Die Rolle des arroganten Königs passte zu Thaddeus mit seinen blauen Haaren und der tiefen, warmen Stimme ungefähr so gut, wie sie zu Pipi gepasst hätte. Doch eines musste er ihm lassen: Thaddeus blieb konsequent sein erdachter Herrscher und wurde nicht von mehr als dem Zucken seiner Mundwinkel entlarvt.
"Widersetzst du dich etwa dem Befehl deines Königs, Bauer?", dröhnte eben dieser nun und durchbohrte Ardy mit einem eiskalten Blick, der den Jüngeren tatsächlich etwas einschüchterte. "Nie würde ich es wagen! Niemals, nie im Leben, würde ich es wagen, Eure Majestät zu enttäuschen!", brachte Ardy voller gespielter Verzweiflung hervor und rutschte ein wenig näher an Thaddeus heran.

Ardy beugte sich nach vorn und berührte mit seinen Lippen fast die tättowierte Haut Thaddeus', als er plötzlich zurückfuhr und dessen Hand wegschlug. "Bevor ich deine Hand küsse, darf Pi mir eher einen Zungenkuss geben", verkündete er und fiel vor Lachen rücklings in den Kies, wo er sich kichernd krümmte und wand. "Damn, ich dachte echt schon, du schlabberst gleich meine Hand ab", entgegnete Thaddeus, der ebenfalls laut lachte und daraufhin einen verwirrten Blick von Pipi erntete, die immer noch am Ufer umherstrich. "Als ob!", brachte Ardy nur hervor und versuchte aufzustehen, wie es Thaddeus in der Zwischenzeit getan hatte. Allerdings wurde er durch sein heftiges Lachen daran gehindert, welches sich noch weiter verstärkte, als er zurück auf den Rücken fiel. "Wow, echt talentiert bist du!", kommentierte Thaddeus und hielt dem lachenden Jungen eine Hand hin, die dieser ergriff und sich daran auf die Beine zog. "Danke." "Kein Probl- Pipi? Pipi, komm her!" Ein panisches Flackern trat in seine blauen Augen, als er den kleinen Hund nicht mehr am Wasser stehen sah. "Shit, wo ist sie?", murmelte er und ging zügig in Richtung Ufer; die kleine Hündin war immer noch nirgends zu entdecken. "Fuuuck."

Pechjunge - [tardy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt