XIII

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"Warum?"
Thaddeus spürte, wie Verzweiflung in ihm aufstieg, die sich nur weiter ausbreitete, als Ardy schwach mit den Schultern zuckte.
"Es tut mir so leid."
Und dann schloss Thaddeus seine Arme um Ardy, der heftig zu zittern begann.

Die Blicke, mit denen sie bedacht wurden, waren ihnen in diesem Moment genauso egal, wie das Ertönen der Klingel, welche die nächste Stunde einleitete. Erst, als alle anderen Schüler den Raum verlassen hatten, löste Thaddeus langsam die Umarmung, blieb jedoch trotzdem dicht vor dem Kleineren stehen. Keiner von beiden sagte ein Wort, nur der Atem des jeweils anderen strich sanft über die Wangen der Jungen. "Wir müssen in den Unterricht", murmelte Ardy schließlich und machte Anstalten zur Tür zu gehen. Thaddeus verspürte das Verlangen, Ardy am Handgelenk zu packen und ihn zurück in seine Arme zu ziehen, doch ihm war klar, dass er das nicht konnte. Also nickte er nur und folgte dem Jüngeren aus dem Raum. "Ardy", machte er den Vorauseilenden auf sich aufmerksam und beschleunigte seine Schritte, bis er neben dem Kleineren lief, "bist du heute wieder auf der Brücke?" "Eigentlich nicht, nein", entgegnete dieser. "Würdest du trotzdem mit kommen?" Ardy antwortete nicht, aber Thaddeus wusste, dass er heute nicht alleine nach Hause gehen würde.

Nachdem sie ihre Verspätung damit entschuldigt hatten, dass Ardy starke Schmerzen gehabt und Thaddeus ihm daraufhin gut zugeredet hatte, setzten sie sich auf ihre Plätze und folgten dem Unterricht mehr oder weniger aufmerksam. So brachten sie sechs Stunden hinter sich, körperlich immer getrennt, doch ihre Gedanken kreisten fast durchgängig um den jeweils anderen. Als die letzte Stunde von der Klingel beendet wurde, stürmte die Hälfte der Schüler noch in derselben Sekunde aus dem Saal. Die anderen bildeten noch kleine Grüppchen und besprachen ihre Pläne für den heutigen Tag. Ardy war gerade dabei, seine Sachen einzupacken, als seine Lehrerin sich plötzlich vor ihm aufbaute. "Ardian, ich sehe, du bist verletzt", begann Frau Altspecht, "und das ist auch nicht das erste Mal, dass du ernsthaft verletzt bist."

Augenblicklich kroch Angst in ihm herauf und er blickte ausweichend auf den gesprenkelten Gummiboden. "Ich mache mir ein wenig Sorgen um dich, wenn ich so ehrlich sein darf. Ist bei dir zuhause alles in Ordnung?"
Normalerweise konnte Ardy der ältlichen Dame nicht wirklich böse sein, so suspekt sie ihm auch manchmal war, doch in diesem Moment verspürte er nichts als geballte Wut. Wahrscheinlich diente sie nur dazu, seine Angst zu überspielen, aber er nahm dieses Gefühl von Macht nur allzu gerne hin, wo er sonst fast immer zu passiver Furcht verdammt war. "Alles in Ordnung", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und spannte dabei seine Hände zu Fäusten, so fest, dass seine kurzen Nägel sich in die Handinnenflächen gruben. "Das beruhigt mich. Aber du weißt, dass du jederzeit zu mir kommen kannst." Ardy nickte verkrampft und machte demonstrativ einige Schritte in Richtung der Tür, doch er wurde zurückgehalten. "Ah, Ardian, jetzt hätte ich es fast vergessen! Wegen deiner Sportnote würde ich deine Eltern gern beim Elternsprechtag nächste Woche sehen. Um wie viel Uh-" "Entschuldigen Sie, aber Ardy und ich müssen jetzt wirklich los", wurde sie von Thaddeus unterbrochen, der aus dem Nichts hinter Ardy aufgetaucht war und diesen am Arm aus dem Klassensaal zog. Frau Altspecht sah den beiden Jugendlichen perplex hinterher, dann begann sie zu lächeln. "Der unnahbare Daniel hat anscheinend endlich Anschluss gefunden", murmelte sie zufrieden, als sie den Raum zuschloss.

"Danke", murmelte Ardy, als er neben Thaddeus die Treppen des Schulgebäudes hinter sich ließ. "Kein Ding."
Schweigend folgte er dem Blauhaarigen, der anscheinend genau in der entgegengesetzten Richtung wie er selbst wohnte. "Ich hoffe, dass Frank nicht zuhause ist", seufzte Thaddeus, als sie nach etwas mehr als zehn Minuten in eine Straße voller kleiner Einfamilienhäuser einbogen.
"Wer ist Frank?"
"Mein Stiefvater."
"Haben deine Eltern sich getrennt?", wollte Ardy wissen und erntete ein Kopfschütteln.
"Mein Vater ist vor drei Jahren an Krebs gestorben."

"Oh, das tut mir leid. Wie dumm von mir zu fragen!" Panisch entschuldigte der Jüngere sich wieder und wieder, bis sie irgendwann vor einer weißen Holztür standen, hinter der bereits das aufgeregte Fiepen Pipis zu hören war. "Herrje, wie niedlich! Sie freut sich ja richtig, dich zu sehen." "Da ist sie aber auch die einzige", erwiderte Thaddeus trocken und schloss die Haustür auf, nur um sofort in die Hocke zu gehen und Pipi zu begrüßen, die so heftig mit dem Schwanz wedelte, dass Ardy befürchtete, sie könnte abheben. "Hallo meine Kleine, ja, ja, warst du ganz alleine? Warst du gaaanz alleine, meine Süße?" Seine Artikulation hatte die eines Kleinkindes angenommen und er verstellte auch seine Stimme, aber diese war ohnehin so tief, dass es nicht wirklich auffiel. "Damn, kleine Fledermaus", nun ging auch Ardy in die Hocke und sofort schmiegte der Chihuahua sich an seine Oberschenkel. "Ach, die ist das gewohnt", meinte Thaddeus lachend und erhob sich, "Meistens rufe ich das nur, weil ich sicher sein will, dass Niemand zuhause ist." "Ist dein Stiefvater so schlimm?", wollte Ardy wissen und riss sich schweren Herzens von Pipi los, um Thaddeus zu folgen, der in Richtung Küche gegangen war. "Er ist ein schmieriger Lackaffe, der versucht meine Mutter gegen mich aufzubringen. Und er hasst mich. Also ja, ich ha-"
Mit zum Weiterreden geöffneten Mund drehte der Blauhaarige sich abrupt um und zuckte mit den Schultern. "Aber dir brauche ich das nicht zu erzählen. Im Vergleich zu deinem Vater ist er wahrscheinlich ein Engel." Ardy sah ihn einen Moment ratlos an, bevor er entgegnete: "Hektor ist eigentlich gar nicht so schlimm, weißt du? Zumindest war er früher echt ein toller Vater und wenn er nicht gerade betrunken ist, ist er auch ganz okay."

"Trotzdem schlägt er dich, das stellt alles andere in den Hintergrund."
Thaddeus nahm wahr, dass der Kleinere bei dieser direkten Wortwahl zusammenfuhr, doch ihm war wichtig, dass Ardy nachvollziehen konnte, was er dachte. "Verstehst du, was ich meine?", er ging einen Schritt auf Ardy zu, "es darf dir nicht leidtun, dass du ihn hasst. Zumindest manchmal. Du hast das Recht dazu, ihn zu verabscheuen."
Ardy hatte den Blick auf den Fußboden gesenkt, bis er mit zusammengepressten Lippen aufsah. "Warum mischst du dich so sehr in mein Leben ein?"

[1023 Wörter]

Pechjunge - [tardy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt