XIX

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Tatsächlich war es Pipi, die der großen Stille trotzte.
Vorsichtig kam sie in die Küche getapst. Ihre Krallen kratzten und klackten leise auf den Fliesen des Fußbodens, hörten erst damit auf, als sie mit einem eleganten Satz auf Thaddeus' Schoß sprang und sich dort niederließ. Er zuckte zusammen, als sie auf ihm landete, begann jedoch sofort damit, sie geistesgegenwärtig zu kraulen. Obwohl er immer noch verloren in den Raum starrte, war sein Blick jetzt verändert, hatte kaum noch etwas von dieser eisigen Härte, die ihn zuvor dominiert hatte. Der Gedanke an diesen Ausdruck in Thaddeus' Augen jagte Ardy einen frostigen Schauer über den Rücken  und er schüttelte sich kurz und heftig. Diesen Blick hatte der Fünfzehnjährige schon oft gesehen. Es war der Blick eines Mensches, dessen Vertrauen missbraucht worden war und der nichts als puren Hass auf seinen Peiniger verspüren wollte. Doch aus irgendeinem Grund gelang es ihm nicht, irgendein winziger Teil in ihm hinderte ihn daran, diesen Hass zu verspüren. Dieser Zeil flüsterte ihm leise und mit hämischer Stimme  ins Ohr: Es ist nicht ihre Schuld. Es ist deine. Ganz allein deine Schuld.
Und plötzlich, es war als hätte jemand einen Schalter umgelegt, sah Ardy den blauhaarigen Jungen, der vor ihm saß, in einem anderen Licht. Was hatte er durchgemacht? Was - oder besser gesagt - wer hatte ihn so sehr verletzt? Auf einmal wurde Ardy schmerzlich bewusst, wie wenig er über Thaddeus wusste. Sie hatten immer nur über Ardian und seine Probleme geredet, nie über die von Thaddeus, der in ihren Gesprächen immer nur Zuhörer gewesen war, auch, wenn er viel gesagt haben mochte. Verdammt, wie konnte man nur so eigennützig sein, dachte Ardian bitter und da spürte er es: das Lachen, das in seinem Inneren immer weiter hinaufkroch, bis er es schließlich nicht mehr zurückhalten konnte und freudlos ausspie. Hatte er wirklich gedacht, Thaddeus hätte keine eigenen Probleme? Hatte er tatsächlich angenommen, der Blauhaarige würde immer da sein, wenn er eine Schulter zum Anlehnen brauchte, und lieb nicken und sagen, alles würde gut werden? Wie dumm er doch gewesen war.

Thaddeus starrte ihn an, als wäre er verrückt geworden, und vielleicht war er das ja auch, aber immerhin war der Blauhaarige jetzt wieder voll anwesend. Er versuchte sich an irgendetwas aus den letzten zehn Minuten zu erinnern, das Ardy so komisch gefunden haben könnte, doch ihm fiel nichts ein. Deshalb wartete er einfach, bis Ardy aufgehört hatte zu lachen. Gerade wollte er ihn danach fragen, als er schnell den Mund wieder schloss. Es gab nur eine Sache, die er jetzt sagen konnte, sagen musste.
"Es tut mir leid."
Wie oft hatte Ardy diesen Satz schon hören müssen, während er sich einen Kühlakku auf die rot anschwellende Wange gehalten hatte. Er schwieg.
"Wirklich, es tut mir so unglaublich leid. Das musst du mir glauben, bitte."
Wie konnte Thaddeus, sein Thaddeus nur so sehr klingen wie Hektor?
"Es t-", er stockte, seine Augen weiteten sich vor Schrecken, "Ich...ich hab dir doch nicht weh getan, oder?"
Eigentlich hatte Ardy nicht vorgehabt, eine Reaktion zu zeigen, doch der besorgte und gleichzeitig angewiderte Blick in Thaddeus' Gesicht, zwang ihn zu einem Kopfschütteln. Er wollte nicht, dass Thaddeus sich vor sich selbst ekelte. "Nein."
Erleichtert atmete Thaddeus aus und ein kaum bemerkbares Lächeln huschte über seine Lippen. Sein verunsicherter Blick blieb auf Ardian liegen und nahm in der Zeit, in der die schwiegen, immer mehr an Leere zu. "Ich befürchte, ich schulde dir eine Erklärung", brachte der Blauhaarige nach einem nervösen Räuspern hervor. Ardy wollte es nicht wahrhaben, aber Thaddeus' Wortwahl versetzte ihm einen kleinen Stich auf der linken Brustkorbseite. Konnte der andere ihm wirklich so wenig vertrauen, dass er sich davor fürchtete,  ihm etwas zu erzählen? Ardy spürte, wie die kleine Stimme bereits einatmete, um zu flüstern, doch es gelang ihm, sie zu verdrängen. Der bittere Geschmack in seinem Mund, der irgendwo aus seiner Rippenregion aufgestiegen war, blieb.

Sie verließen das Haus und wurden von einem verheißungsvoll leuchtendem, grauen Himmel empfangen. Einen Moment lang überlegte Ardy, ob er den baldigen Regen erwähnen und vorschlagen sollte, im Haus zu bleiben. Aber ein Blick zur Seite verriet ihm, dass Thaddeus die auffällige Färbung des Himmels ebenfalls bemerkt hatte - wie auch nicht?
Der Blauhaarige verschwand wieder im Haus und Ardy wollte ihm gerade folgen, als er ihm schon wieder entgegenkam. Wortlos, dafür aber mit einem kleinen Lächeln, hielt Thaddeus ihm eine verwaschene Jeansjacke entgegen. Ardy nahm sie dankend and und versank fast in der viel zu großen Jacke, die wohl schon für Thaddeus oversized war. Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, dass Thaddeus sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Nachdem auch Thaddeus sich eine Jacke übergeworfen hatte, machten sie sich auf den Weg zu ihrer üblichen Stelle am Rhein. Mit jedem Schritt den er machte, realisierte Ardy ein Stückchen mehr, dass dieser Tag alles verändert hatte, alles verändern würde.

Pechjunge - [tardy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt