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Dann kam der Dienstag.
Ardy verließ an diesem Morgen bereits um sieben Uhr morgens die Wohnung, obwohl er nur etwas weniger als zwanzig Minuten zur Schule brauchte. Zu groß war jedoch die Angst, Hektor zu begegnen, der zwar gestern relativ wenig getrunken hatte, an dessen Bett allerdings bereits eine Wodkaflasche darauf wartete, geleert zu werden. Ardy schlug diesmal eine andere Richtung ein und fand sich kurze Zeit später vor einer kleinen Bäckerei wieder, in der er sich eine Brezel kaufte, die er dann auf dem Rückweg verzehrte. Als er sein Haus passierte, waren gerade einmal zehn Minuten vergangen; noch viel zu viel totzuschlagende Zeit, bis Tommy endlich sein Haus verlassen würde. Natürlich könnte Ardy auch einfach zur Schule gehen und sich dort in die Cafeteria setzen, doch im Moment war morgens noch gutes Wetter. Die letzten wirklich warmen Sonnenstrahlen des Jahres trafen auf seine Haut, den Asphalt und die Häuserfassaden Kölns. Warum sollte er diese also nicht genießen? Der Herbst käme früh genug, immerhin war es bereits Ende August und dann würde es immer ungemütlicher werden.

Außerdem wartete Ardy gerne auf Tommy. Er war Teil seiner Normalität und ohne ein Gespräch mit dem Schwarzhaarigen fühlte sich der Tag bereits so früh am Morgen surreal an. Er beschloss, ein wenig umherzuspazieren, dabei Musik zu hören, und sich dabei die aktuellsten Notizen aus dem Sozialkundeunterricht anzusehen, um sich die Zeit zu vertreiben. Um 7:30 Uhr machte er sich langsam auf den Weg zu Tommys und seinem Treffpunkt, wo er nochmals zehn Minuten wartete, bis der Schwarzhaarige sich endlich blicken ließ. "Hello, my friend", begrüßte dieser ihn und umarmte ihn sogar kurz. "Hi, gut drauf heute?" "Jap, hab heute nur vier Stunden." Ardy verzog die Lippen zu einem Schmollmund. "Will auch!" "Ach, laber nicht! Du hast das gechillteste Leben überhaupt! Und das weißt du auch, du fauler Bengel, du!", grinsend boxte Tommy dem Kleineren spielerisch in die Seite, woraufhin dieser zusammenzuckte. Er sollte sich wirklich angewöhnen, anderen Menschen nur noch die rechte Seite zuzuwenden. "Oh shit! Hab ich dir weh gemacht?" Tommy besorgter Blick brachte ihn beinahe zum Lachen, doch dann schüttelte Ardy bloß gequält lächelnd den Kopf. "Nein, alles in Ordnung. Bin gestern im Dunkeln gegen meinen Schrank gelaufen und hab mir da die Schulter angestoßen." Tommy nickte und Ardy war bereits erleichtert, mit dieser Lüge davon gekommen zu sein, als Tommy ihn plötzlich von der Seite ansah. "Und wie hast du dir die Rippen verletzt?" Fuck.

"Witzige Geschichte", Ardy lachte gezwungen, verzweifelt auf der Suche nach irgendeiner Ausrede, die nicht völlig sinnlos war. "Ich war gestern im Park und bin über eine Bank gestolpert und habe mich dann der Länge nach hingehauen. Und meine Rippen sind dabei genau auf der Kante gelandet, war echt dämlich." Er versuchte, diese erbärmliche Lüge mit seinem peinlich berührten Lachen in den Hintergrund zu drängen, doch dafür war Tommy definitiv der falsche Gesprächspartner. "Schon krass, wie tollpatschig du bist", murmelte dieser und schien dabei alles andere als amüsiert. "Ja... Das war aber schon immer so, deshalb verstehe ich auch gar nicht, warum mir beim Klettern noch nie etwas passiert ist", plapperte Ardy drauflos, nur um dann wieder zu verstummen und gespannt eine weitere Reaktion Tommys abzuwarten. "Aber hast du dir nicht im Frühling die Schulter ausgerenkt, weil du beim Klettern abgerutscht bist?" Nicht ganz. Hektor hatte seinen Sohn an einem Arm aus seinem Zimmer heraus geschleift, um alles, was nicht niet- und nagelfest war, zu zerstören, nachdem er im Wohnzimmer nichts mehr gefunden hatte. Das war an einem Dienstag geschehen. Am nächsten Morgen hatte Hektor ihn ins Krankenhaus begleitet. "Das war beim Klettern auf Bäumen, das ist was anderes." "Du hattest aber auch mal eine total fiese Schramme im Gesicht, weil du beim Felsenklettern fast runtergefallen wärst und dann mit dem Gesicht auf der Steinwand gebremst hast, oder nicht?" Wieder nur knapp an der Wahrheit vorbei. Allerdings stammte die Abschürfung von den scharfen Fliesenkanten der Badezimmerwand ihrer Wohnung, an die Hektor das Gesicht seines Sohnes gepresst hatte, nachdem diesem die Zahnpastatube hingefallen war. "Stimmt, das hatte ich total vergessen", räumte Ardy ein, darauf hoffend, dass Tommy nun endlich Ruhe geben würde. Doch dieser dachte gar nicht daran, das Thema zu beenden. "Wenn ich so darüber nachdenke, bist du ziemlich häufig verletzt. Und das, obwohl du gar keinen Leistungssport machst." Ardy zuckte nur mit den Schultern, was angesichts der letzten Freitagnacht keine gute Idee war, und hoffte, dass Tommy sein angestrengtes Gesicht nicht bemerkte.

"Na ja, dann musst du einfach besser auf dich aufpassen! Oder ich übernehme das für dich." Tommy bedachte Ardy mit einem Blick, der so voller Gefühle war, dass Ardy gar nicht in der Lage war, sie alle zu entdecken und zu entziffern. Es war ein warmer Blick, voll Zuneigung und ein wenig Stolz, doch aus Tommys tiefgründigen Augen sprach noch mehr. Es machte Ardy zutiefst traurig diesen Ausdruck zu sehen, obwohl er ihn nicht erkannte. "Danke." Tommy schwieg.

Schließlich kamen die Beiden an Ardys Schule an und er verabschiedete sich mit einer Umarmung von dem Schwarzhaarigen, der ihm noch Abschiedsworte hinterherrief, während Ardy bereits davon schritt. Er war sich nicht sicher, doch er glaubte, jemanden das Wort "Schwuchtel" in seine Richtung zischen zu hören. Es war nicht so, dass er das erste Mal so genannt worden wäre, aber Ardy war auf einmal furchtbar wütend. Warum durfte er nicht seine Freunde umarmen, wenn er es wollte? Warum erwartete die Gesellschaft so viel weniger Körperlichkeit in einer Freundschaft zwischen Männern als bei Frauen? Es ergab einfach keinen Sinn und doch musste Ardy es wohl so hinnehmen, wenn er nicht zu spät kommen wollte.

Da sie heute Englisch in der ersten Stunde hatten und die neue Lehrerin eine wirklich gewöhnungsbedürftige Aussprache an den Tag legte, ging Ardy das Risiko ein, dem Unterricht nicht wirklich zu folgen, sondern nachzudenken. Über Tommy, über Männerfreundschaften und Langarmshirts im Sommer, und Hektor. Und plötzlich klopfte es an der Tür.
Dreizehn Köpfe fuhren in die Höhe, 26 neugierige Schüleraugen verfolgten jede von Daniels Bewegungen. "Huch, who are you?", rutschte es der jungen Lehrerin heraus, die sichtlich geschockt vom Äußerden des Neulings war. "My name is Daniel and I'm new. Bis eben war noch nicht geklärt, ob ich im Englischunterricht in dieser oder der anderen Hälfte der Klasse sein werde." Die Klasse war nämlich so aufgeteilt, dass ungefähr die Hälfte der Schülerinnen und Schüler in der fünften Klasse zuerst Französisch gelernt hatte, während die andere Hälfte mit Englisch begonnen hatte. In der sechsten Klasse addierte sich dann die jeweils andere Sprache auf den Stundenplan der Schüler. Ardy hatte, wie die anderen zwölf verbliebenen seiner Hälfte, zuerst Französisch gewählt. "Oh, well...I'm glad that you're here. Setz dich einfach hin, wo du willst." Eine schreckliche Angewohnheit für eine Lehrerin für Fremdsprachen: ständig wechselte sie zwischen Englisch und Deutsch, und das, weil sie in der Fremdsprache nicht weiter wusste. Ein weiterer Grund für Ardy, dem Unterricht nicht wirklich Beachtung zu schenken, was er schließlich auch tat, weil ein süßlicher Geruch seine Nase kitzelte, als Daniel an ihm vorbeirauschte und sich ganz alleine in die dritte Reihe setzte.

Pechjunge - [tardy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt