XV

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"Es tut mir leid", schluchzte Ardy, der seinen Blick starr auf den grau gesprenkelten Kiesboden gerichtet hatte und sich nicht traute, zu Thaddeus aufzublicken, dessen beruhigend große Hand er auf seinem Rücken liegen spürte.
"Hey, es ist doch nichts passiert. Du hast nichts Schlimmes get-"
"Ich wollte dich schlagen. Ich...ich hab Angst, T", unterbrach der Jüngere ihn heiser und unterdrückte dabei nur mühsam sein Schluchzen.
"Ich hab dich provoziert. Außerdem war der Schlag ja gar nicht ernst gemeint; es ist ganz normal, sich ab und zu aus Spaß anzurempeln oder zu boxen." Es fiel Thaddeus schwer, aufrichtig zu klingen, war er doch selbst nicht einmal sicher, ob Ardys Schlag wirklich so harmlos gewesen war, wie er es gerade darzustellen versuchte. Insgeheim betete er, dass Ardy ihm zustimmen würde. Doch der Junge schwieg und schüttelte kaum merklich den Kopf. Thaddeus fragte sich, ob diese winzige Bewegung unterbewusst oder beabsichtigt geschah oder vielleicht auch nur von dem langsam abklingenden Schluchzen Ardys herrührte.
"Mach dir bitte nicht so viele Ged-", sobald Ardy merkte, worauf Thaddeus hinauswollte, unterbrach er ihn erneut - und hob diesmal ruckartig den Kopf an. Aus tränennassen Augen blickte er Thaddeus mit dem ernstesten Ausdruck an, den dieser je gesehen hatte.
"Ich habe Angst. Ich habe schreckliche Angst, zu werden wie mein Vater."

Die Bedeutung dieser Worte traf Thaddeus heftig - Ardy hätte ihm genauso eine Ohrfeige verpassen können. Doch diesmal wich er dem Schlag nicht aus, sondern ließ sich mit voller Wucht treffen. "Ardy", er schaffte es, trotz seiner Nervosität ruhig zu klingen, "du wirst niemals, niemals so werden wie dein Vater, das verspreche ich dir." Ardy hätte ihm widersprechen können, doch der Braunhaarige sagte kein Wort, stattdessen lehnte er sich an Thaddeus' Seite an, der seinen Arm nun bequem um den Oberkörper des Kleineren legen konnte. Ardy sah auf den vorrüberfließenden Rhein und sein Kopf fand seinen Platz auf Thaddeus' Schulter.
"Danke."
Er war sich nicht einmal sicher, ob Thaddeus ihn überhaupt gehört hatte, doch das war nicht von Bedeutung. Das leise Gluckern des Rheins, die Menschen und Fahrzeuge, die in die Stadt hineinströmten, die Vögel, die mehr zu hören als zu sehen waren, Pipi, die in diesem Moment im Gestrüpp verschwand - all das war nicht von Bedeutung, solange er nur spüren konnte, wie Thaddeus' Brustkorb sich bei jedem Atemzug bewegte. Doch leider musste auch dieser Augenblick, dieser Zustand der Geborgenheit irgendwann enden.

Sie riefen Pipi zu sich und verließen die kleine "Bucht", die von der Brücke aus unzugänglich schien. Bestimmt waren sie nicht die einzigen, die diesen Ort kannten, und trotzdem kam es ihnen jedes Mal so vor, als betritten sie eine andere Welt, wenn sie hierher kamen. Und das taten sie oft. In den folgenden zwei Wochen gab nur wenige Tage, an denen Ardy nicht mit Thaddeus und Pipi spazieren ging, und doch wäre Ardy gerne viel häufiger mit Thaddeus gelaufen. Meistens redeten sie einfach nur, häufig über Schule und Freunde, manchmal über ihre verkorksten Familien. Thaddeus merkte schnell, dass Ardys Gefühle gegenüber Hektor keineswegs so einfach zu fassen waren wie die, die er für seinen eigenen Stiefvater hegte. Er hatte bisher ein Treffen von Ardy und Frank erfolgreich verhindern können und er plante, dies auch weiter zu tun. In der Schule verbrachte er viel Zeit mit Marley, Navy und den anderen, mit denen er sich gelegentlich auch nachmittags oder abends traf, wobei auch Navys Cousine immer öfter anwesend war. Es war kaum zu übersehen, dass sie ein Auge auf Marley geworfen hatte, wovon dieser nicht ganz abgeneigt zu sein schien. Keiner von ihnen wusste etwas genaueres über Thaddeus' Freundschaft mit dem unscheinbaren Fünfzehnjährigen und auch darüber war Thaddeus sehr froh. Diese zwei Wochen waren wohl seit langem die glücklichste Zeit im Leben der beiden Jungen und eigentlich hätte es ewig so weiter gehen können. Aber das Schicksal hatte andere Pläne für sie.


Pechjunge - [tardy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt