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Er öffnete die Wohnungstür und trat leise in den Flur, wo er sich hinkniete, um seine Schuhe auszuziehen. In Gedanken malte er sich bereits aus, wie er am besten am Wohnzimmer vorbeikäme, ohne Hektors Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dazu kam es aber gar nicht, denn als er aufstehen wollte, bemerkte er, dass Hektor bereits im Türrahmen stand.
"Wo warsdu?", lallte dieser und schwankte bedrohlich auf den immer noch am Boden sitzenden Jungen zu.
"Ich hatte länger Schu-", Ardys Murmeln ging in Hektors Brüllen verloren.
"Bullshit!", artikulierte er erstaunlich genau für seinen Alkoholblutgehalt, "Lüg mich nich an. Deine Hurenmutter hat auch immer gelogen."
"Vater, bitte. Du hast zu viel getrunken", versuchte Ardy vergeblich, den aufgebrachten Mann zu beschwichtigen. Der brach in schallendes Gelächter aus und machte weitere unsichere Schritte auf seinen Sohn zu. "Das hat deine Schlampe von Mutter auch immer gesagt, wenn sie keinen Bock hatte zu vögeln. Für ihren Chef hat's noch gereicht!", keifte Hektor und klang zunehmend wütender.
"Bitte, lass mich einfach schlafen, Hektor", flehte Ardy und rutschte auf den Knien nach hinten, bis er mit dem Rücken an die Wohnungstür stieß.
"Halt. Den. Mund."
"Ich wi-"

Mit einem schallenden Klatschen flog Ardys Kopf zur Seite, sein Hinterkopf knallte gegen die Tür, Tränen schossen ihm in die Augen, doch er blickte starr an Hektor vorbei.
"Was habich gerade gesagt? Hey, schau mich gefälligsan, wenn ich mit dir rede!"
Stur hielt Ardy den Blick gesenkt, bis sich eine Hand blitzschnell um seinen Unterkiefer krallte und ihn zwang, den Kopf zu heben und in das Gesicht seines Vaters zu sehen, in dessen linkem Auge ein Äderchen geplatzt war, welches den sonst weißen Glaskörper rot färbte.
"Du siehst genauso aus wie sie." Hektor quetschte Ardys Wangen und Unterkiefer immer fester in seiner Hand, seine Fingernägel bohrten sich in die Haut und Blut quoll aus den schmutzigen Kratzern. Der Junge schrie vor Schmerzen, der Griff um seinen Kiefer verstärkte sich nur noch weiter und er glaubte bereits, der Knochen würde zerbersten, während Hektor dröhnend fortfuhr: "Wahrscheinlich treibst du's auch mit älteren Männern. Stöhnst und schreist wie wild, wenn sie dich durchnehmen. Bettelst, dass sie's dir härter besorgen, nicht wahr?"
Nun bedrohlich über Ardy gebeugt, spuckte Hektor seinem Sohn voller Abscheu ins Gesicht.
"Ich hasse dich."
Das letzte, was Ardy sah, war die Ausholbewegung seines Vaters, dann gingen ihm die Lichter aus.

Am nächsten Morgen kam Ardy nicht in die Schule. Thaddeus bekam von einigen Mitschülern erklärt, dass Ardy mittwochs öfter mal fehlte und donnerstags ziemlich kränklich wieder auftauchte. Und natürlich war ihm klar, dass Ardy sich weder eine Grippe noch sonst einen Virus eingefangen hatte. Doch was war dann der Grund für sein Fehlen? Den ganzen Tag lang zerbrach der Blauhaarige sich den Kopf darüber, was mit dem Retter seines Hundes los war. Auch am Nachmittag, als er mit Marley, Navy und ein paar anderen Jungs im Park auf einer der Grünflachen saß und zu guter Musik weniger gutes Gras rauchte, kreisten seine Gedanke immer noch um Ardy.
"Damn T, was ist denn los? Du siehst aus, als hätte dir jemand eine verpasst", scherzte einer der Jungen, von denen Thaddeus nichts außer ihren Namen wusste.
"Keine Ahnung, Moku. Ist heute einfach nicht mein Tag." "Dann hätt ich hier was, das dich ablenken könnte", entgegnete er grinsend und hielt Thaddeus den Joint entgegen. Dieser winkte jedoch ab und fuhr damit fort, wie gebannt auf sein Handy zu starren. Der Grund dafür war der veränderte Status der 'online'-Anzeige unter Ardys Namen, dessen Nummer, wie die aller anderen, in der Klassengruppe war. Er war der einzige, den Thaddeus bisher eingespeichert hatte. Und jetzt, um drei Uhr nachmittags, war Ardy zum ersten Mal am heutigen Tag online. Sofort begann Thaddeus zu tippen:
Hi, wie geht's dir?
Er hielt es nicht für nötig, seinen Namen zu ergänzen, sein Profilbild würde ihn sowieso verraten. Ardy hatte die Nachricht gesehen, das verrieten die Häkchen seitlich des Textes, reagierte aber nicht darauf.
Ardy, bitte, ich will nur wissen, ob es dir gut geht.
Wieder zeigten die blauen Häkchen Thaddeus, dass seine Nachricht gelesen wurde, doch er erhielt keine Antwort. Stattdessen ging Ardy offline, woraufhin der Blauhaarige verzweifelt seufzte und sein Handy ausmachte.
"Ist alles in Ordnung bei dir? Du bist so nachdenklich heute." Marley war aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht und klang ernsthaft besorgt.
Thaddeus nickte gequält  und erklärte dann: "Ich mach mir nur Sorgen um einen Freund."

Nun war es an Marley, zu nicken und sich wieder aufzurichten, um in das laufende Gespräch miteinzusteigen. Thaddeus warf einen letzten Blick auf den Bildschirm seines Handys und legte es dann beiseite. Mit Ardy war sicher alles in Ordnung, also warum sollte Taddl seinen Nachmittag seinetwegen keinen Spaß haben? Er streckte die Hand in Navys Richtung, der ihm sofort den halb abgebrannten Joint reichte, und nahm einen langen Zug. Genießerisch schloss er die Augen und ließ den rauchig-erdigen Geschmack seine Zunge kitzeln. Dann sah er fasziniert dem Rauch zu, der zwischen seinen Lippen hervorquoll. Mit halbgeschlossenen Augen ließ er sich rücklings aufs weiche Gras fallen und sah in den Himmel hinauf, bis sich ein Lächeln in sein Gesicht stahl. Dannn vibrierte sein Handy und er brauchte einen Moment, dieses Geräusch einzuordnen. Dann erinnerte er sich an seinen bisher einseitigen Nachrichtenwechsel mit Ardy und er holte hastig sein Handy hervor. Mit fliegenden Fingern entsperrte er es und fand sich im Chat mit Ardy wieder. Und er hatte tatsächlich eine Nachricht von dem Braunhaarigen erhalten.

Alles in Ordnung, hab bis gerade eben geschlafen.

Pechjunge - [tardy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt