XVI

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Alles begann - oder endete - mit dem Gesichtsausdruck, mit dem Ardy am folgenden Montagmorgen von Tommy begrüßt wurde. Der Schwarzhaarige war beleidigt, soviel war sicher. Leider war der Grund für seine böse Miene keineswegs so leicht zu durchschauen, wie sie selbst. "Morgen", murmelte Ardy, der sich im selben Moment fragte, ob es eventuell klüger gewesen wäre, Tommy übertrieben freundlich zu grüßen. "Morgen...Du lässt dich also dazu herab, mit mir zu reden?"
Es hätte keinen Unterschied gemacht, egal wie ihre Begrüßung ausgefallen wäre.
"Wie meinst du das?", wollte Ardy wissen und musste sich zurückhalten, um nicht denselben schneidenden Ton wie sein Gegenüber an den Tag zu legen.
"Naja, ich hab seit Donnerstag nichts mehr von dir gehört. Ich scheine dir wohl wirklich wichtig zu sein, wenn du mir nicht einmal schreiben kannst."
Wie oft hatten sie diese Unterhaltung im letzten Jahr schon geführt? Ardy hatte irgendwann aufgehört zu zählen.
"Am Donnerstag hatte ich die erste Stunde frei. Und du weißt genau, dass ich nie jemanden anschreibe", rechtfertigte Ardy sich und verzichtete darauf zu erwähnen, dass das im Moment nicht ganz der Wahrheit entsprach. Immerhin bekam er täglich mehrere Nachrichten von Thaddeus - und umgekehrt.
"Anderen mag das vielleicht reichen, aber für mich bedeutet Freundschaft mehr, als morgens zehn Minuten zu reden", fuhr der Schwarzhaarige so unbeirrt fort, dass Ardy sich nicht einmal sicher war, ob Tommy ihn überhaupt gehört hatte. "Ich scheine dir wohl gar nichts zu bedeuten", schloss er seinen als Dialog getarnten Monolog und überließ es Ardy, zu entscheiden, ob er antworten würde. "Du weißt genau, dass das nicht stimmt", murmelte der Jüngere und blickte auf den Boden, um Tommys anklagenden, milchigen Augen auszuweichen.
"Aber das kann mir eigentlich echt egal sein, in einem Monat bin ich fertig mit der Schule. Dann begegnen wir uns nicht zwangsläufig auf dem Schulweg, also sehen wir uns wahrscheinlich eh nie wieder." Ohne auf Ardys Worte einzugehen, setzte Tommy seine Anschuldigungen fort und merkte dabei nicht, wie sehr er Ardy damit verärgerte.
Natürlich verstand er die Sorgen seines Freundes, aber es machte ihn rasend vor Wut, dass Tommy nie, wirklich nie die Schuld bei sich selbst suchte. Stattdessen beschuldigte er andere und machte sie für seine Fehler verantwortlich. Vielleicht war dies eine Eigenschaft, die mit der Hochbegabtheit einherkam, doch das änderte nichts daran, dass es ein schrecklicher Charakterzug war. "Du übertreibst."
"Pfft, ich weiß genau, wie das ablaufen wird. Hab es schon oft genug erlebt, du bist da nicht anders." Wie so oft betonte Tommy, dass er sehr viel älter als Ardy war und dementsprechend mehr Lebenserfahrung hatte. Manchmal hatte Ardy das Gefühl, sein Freund hielt sich selbst für Dumbledore, anders ließen sich seine plötzlichen Weisheitsschübe beim besten Willen nicht erklären. Natürlich hatte Tommy viel durchgemacht, vieles, was man niemandem wünschen würde, und er war schlau; unschlagbar, wenn es um naturwissenschsftliche Zusammenhänge ging.
Aber manchmal gab er den ungefähren Gesprächsinput eines Sprüchekalenders von sich.

"Wenn du meinst", murmelte Ardy und schlug ohne ein weiteres Wort der Verabschiedung den Weg zum Schulhof ein, den sie in diesem Moment passierten. Als er den Klassensaal betrat, war dieser leerer als gewöhnlich, ein Blick auf die Uhr verriet ihm, weshalb. Anscheinend hatten Tommy und er den Fußmarsch heute schneller als üblich absolviert, woran ihre Diskussion sicher nicht ganz unschuldig gewesen war. "Hey Ardy, komm mal kurz her!" Die Stimme gehörte weder Luna noch Thaddeus, weshalb er kurz zögerte, unsicher darüber, ob er sich verhört hatte. Doch als er mehrere an ihn gerichtete, auffordernde Handgesten aus der rechten hinteren Ecke des Klassensaals wahrnahm, setzte er sich in Bewegung. Er blieb vor dem Tisch stehen, an dem zwei Mädchen saßen, die ihn ungeduldig musterten. "Was?", fragte Ardy knapp, da er eigentlich gar keine Lust auf diese beiden - Melissa und Vanessa, waren ihre viel zu häufig benutzten Namen - hatte. Sie hätten genauso gut eine einzige Person sein können, so wenig unterschieden sich ihre stumpfen Persönlichkeiten, die geprägt waren von Eltern, die sie verwöhnten, Jungen, die ihnen hinterherliefen und Social Media Profilen, auf denen sie in Form von emojigeschwängerten Kommentaren die Bestätigung bekamen, nach der sie sich so sehnten. "Du verstehst dich doch gut mit Daniel, oder?", wollte Melissa wissen, während Vanessa zustimmend nickte.
"Kann sein", Ardy hatte schon eine böse Vorahnung, in welche Richtung sich dieses Gespräch entwickeln würde. "Weißt du, ob er eine Freundin hat?", wollte nun Vanessa wissen und ihre Komplizin nickte. "Keine Ahnung", entgegnete Ardy schulterzuckend, "warum interessiert es euch?"
Die Mädchen lächelten sich verschwörerisch zu, bevor eine von ihnen wissen wollte, ob Thaddeus irgendein Social Media Profil habe. Wieder musste Ardy seine Unkenntnis beteuern, diesmal war die Reaktion Unzufriedenheit. "Ich geh dann mal", murrte Ardy und wandte sich bereits zum Gehen, als er erneut aufgehalten wurde: "Hey, nur noch eine Sache: Weißt du, ob er noch andere Tattoos hat?" "Genau, also nicht nur an den Armen und Händen?"
Ardy stöhnte genervt und wollte die Frage bereits ignorieren, als er plötzlich einen blauen Haarschopf in der Tür bemerkte. Er grinste und sah auf die beiden Mädchen hinunter. "Ja, hat er", er legte eine kleine Kunstpause ein, " und das größte hat er auf seinem Schwanz." Grinsend kehrte er den verdutzt dreinblickenden Mädchen den Rücken zu und begrüßte Thaddeus, der fragend eine Augenbraue anhob, als er die verwirrten Blicke seiner Mitschülerinnen sah. "Über was zur Hölle hast du mit denen denn geredet? Die gucken mich an, als hätte ich vergessen, mir eine Hose anzuziehen!" Ardy lachte auf und klärte Thaddeus, den er nun wieder Daniel nennen musste, darüber auf, wie nah er mit dieser Behauptung der Realität kam.

"Als ob du das gesagt hast", prustend versenkte Thaddeus sein Gesicht in seinen verschränkten Armen, wahrscheinlich um zu verstecken, wie rot seine Wangen vom Lachen und vor Scham angelaufen waren. "Ja ganz ehrlich, was haben die denn erwartet? Dass ich ihnen 'nen ausführlichen Steckbrief mit Lebenslauf überreiche und aus Großzügigkeit noch 'ne detaillierte Ganzkörperfotografie beilege?" Er musste sich beherrschen, nicht zu laut zu werden, immerhin saßen die beiden nur wenige Meter entfernt. "Keine Ahnung, was die sich erhofft haben, aber warum musste es mein...du weißt schon, sein?", entgegnete Thaddeus lachend, sah Ardy dabei aber aus neugierig funkelnden Augen an. "Alles andere wäre nicht schockierend genug gewesen."
"Na klar, ich richt ihm aus, dass er als 'schockierend' bezeichnet wurde."
Grinsend schüttelte Ardy den Kopf und rempelte Thaddeus spaßeshalber an, der diese sanfte Schubsbewegung etwas stärker und unter Lachen erwiderte. Dass er wegen des Streits mit Tommy eigentlich schlechte Laune hatte, rückte mit Thaddeus' Grinsen weit in den Hintergrund.

[1076 Wörter]

Pechjunge - [tardy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt