Kapitel 09

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Der Geistschlucker erwachte und er war hungrig.
Ihm hungerte nicht nach Fleisch und fester Nahrung.
Nein, er fraß gänzlich andere Dinge. Magie, Gefühle und das Leben selbst konnte er langsam aus seinen Opfern saugen.
Genüsslich hatte er sich an den armen Wesen gelabt, die das Unglück hatten, seinen Sumpf zu durchqueren. Er musste sie nicht jagen. Sie kamen von selbst und er musste sich nicht sorgen, dass sie ihm entkommen konnten. Aus diesem Sumpf gab es kein entkommen.
Hin und wieder folgte er verirrten Reisenden, nur um zuzusehen, wie sie ganz langsam, von Tag zu Tag immer wahnsinniger wurden. Manchmal half er dabei, manchmal nicht.
Doch nun hatte er lange nichts mehr gefressen. Lediglich das Ungeziefer im Erdreich. Sonst gab es kaum ein Lebewesen im Sumpf, das ihm schmeckte.
Doch wie es schien, war ein neues ganz in seiner Nähe.

Schnaubend stolperte Sunray durch den Sumpf. Wütend wie er war achtete er nicht darauf wo er langlief und es dauerte nicht lange, bis er sich verlaufen hatte.
So ein Mist!
Wenn er fliegen könnte, dann würde er einfach in die Luft steigen und sich so zurecht finden. Wenn er fliegen könnte, dann wären Serenity und er nicht abgestürzt. Wenn er fliegen könnte...
Daran waren nur seine dämlichen, kleinen Flügel schuld. Nicht nur, dass er immer alles vergeigte, er schaffte es ja nicht einmal zu fliegen wie jedes andere Pegasuspony.
Wieso versuchte er es überhaupt?
Er war doch niemanden eine Hilfe.
Vielleicht sollte er besser alles aufgeben.
Solche düsteren Gedanken schlichen sich in Sunrays Kopf und mit jeden Schritt den er in den Sumpf machte, wurden sie dunkler. Er bemerkte nicht die Schwaden des Nebels, die ihn einhüllten.
Und auch nicht die Stimme, die Stimme die daraus flüsterte: „Gib einfach auf. Du bist niemanden eine Hilfe. Anstatt alles schlimmer zu machen, solltest du gar nichts tun."
Ja, es war diese Stimme, die Sunray die Gedanken in den Kopf pflanzte, seinen Verstand vernebelte und sein Herz schwer machte.
Sunray fühlte sich von Sekunde zu Sekunde schlechter. So als würde man ihn innerlich leer saugen und alles was übrig blieb, war eine tiefe, dunkle Leere in seinem Innern.
Er dachte an Serenity.
„Lass sie einfach zurück."

Serenity war wütend. Dieser blöde Sunray. Spielte beleidigte Leberwurst und lief einfach weg. Was hatte sie denn schon gesagt, dass er gleich davon trabte?
Ein Pegasus der nicht fliegen konnte.
Wie das wohl war?
Serenity wusste, dass die Pegasi bei einer Beeinträchtigung ihrer Flügel sehr empfindlich, nahezu theatralisch reagieren konnten. Selbst wenn es nur für ein paar Tage war.
„Warum nicht gleich Wochen, Monate oder Jahre?", jammerten sie dann.
Aber Sunray würde mit solchen Flügeln niemals fliegen können. Völlig ausgeschlossen.
Da tat Serenity plötzlich leid, was sie zu Sunray gesagt hatte. Sie stand auf. Sie würde losgehen und sich bei Sunray entschuldigen.

Wo konnte Sunray nur lang gegangen sein? Es gab keine Spuren, keine Anzeichen, dafür dass hier irgendwann jemand entlanggekommen war. Nur hohe, dunkle Bäume, Gras, Matsch und Sumpf. Unwegsames und gefährliches Gelände.
Serenity bekam ein ganz schlechtes Gefühl, bei den Gedanken an den ungeschickten und tollpatschigen Sunray, wie er versuchte sich einen Weg durch den Sumpf zu bahnen. Was wenn ihm irgendetwas zugestoßen war? Oder wenn sie sich gar nicht wiederfinden würden?
Merkwürdig. Früher hatte Serenity sich nie solche Gedanken über andere gemacht und gesorgt hatte sie sich schon gar nicht.
„Sunray!", rief sie, immer wieder, während sie sich möglichst trocken durch den Sumpf kämpfte. „Sunray! Sunray! Sag doch was! Bitte!"
Sie erhielt keine Antwort.
„Ach, du Heukopf", murmelte sie dann und traurig ließ sie den Kopf sinken.
Serenity rief immer wieder nach Sunray, doch sie erhielt keine Antwort. Sie wusste nicht einmal, ob sie in die richtige Richtung ging, oder ob sie Sunray schon näher gekommen war. Sie konnte nur hoffen, dass Sunray ihr Rufen bald hören und antworten würde.
Dass ihm vielleicht etwas passiert sein könnte, daran wollte sie gar nicht denken.
Sie war nun schon so tief im Sumpf, dass sie nicht wusste, ob sie den Weg zurück finden würde. Immer wieder hatte sie große Tümpel mit brackigem Wasser und weite Becken voll Morast großzügig umgehen müssen, war über gewaltige Baumstämme geklettert und hatte so schnell die Orientierung verloren.
Wenn doch wenigstens Sunray hier wäre.
Serenity schniefte und wischte sich eine dieser dummen Tränen aus den Augen.
Sie schritt durch aufkommenden, dunstigen Nebel und plötzlich sah sie, ein gutes Stück vorraus, etwas leuchtend gelbes das ihr zuwinkte.
„Sunray!" Serenitys Stimme überschlug sich fast vor Freude. Sie eilte auf ihn zu, durch rutschigen Matsch und tiefhängende Äste, stolperte über über dicke Wurzeln, rief ihm zu: „Ich dachte schon, wir sehen uns gar nicht mehr wieder!", als sie näher kam – und da war Sunray verschwunden. Er stand einfach nicht mehr da, als hätte er sich in Luft aufgelöst.
„Sunray?" Verwirrt blickte Serenity sich um. Aber da! Da stand er doch. Da vorne und wandte ihr den Rücken zu.
„Wie hast du das denn gemacht?", fragte Serenity als sie auf ihn zutrat.
Sunray schwieg.
„Bist du immer noch sauer? Sunray, es tut mir leid was ich..."
Doch da war er wieder verschwunden. Weg. Einfach so.
Diesmal wischte Serenity die Tränen nicht weg. Sie kamen und strömten über ihr Gesicht und fielen zu Boden. Was war das für ein grausames Spiel? Noch nie hatte Serenity sich so einsam gefühlt. Immer mehr Tränen rollten ihr Gesicht hinunter und tropften auf den Boden.
Viele der trügerischen Becken und Teiche des Geistschluckersumpfs sind so entstanden. Gefüllt mit den Tränen von einsamen und verzweifelten, die hier ein unschönes Ende gefunden hatten.

Serenity wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie etwas hörte. Trübsinnig trabte sie Planlos durch das Moor. Sie weinte nicht mehr so stark wie vorher. Dann und wann lief zwar noch eine Träne, aber die meisten waren ihr ausgegangen.
Als sie es hörte blickte sie sofort auf. Aber da war niemand. Und doch spürte sie ganz genau, wie sie beobachtet wurde. Nur von wo?
Dieser Sumpf war ein Ort voller Geister.
Ein Rascheln.
„Wer ist da?", rief Serenity, ihr Horn bedrohlich aufleuchtend.
Niemand war zu sehen.
Aber... hatten einige der Bäume gerade nicht noch woanders gestanden?
Nein, das bildete sie sich ein. Sie hatte lange nichts gegessen, außerdem war es düster unter den vielen Schichten der Blätter durch die auch keine frische Luft wehte und vor allen machte sie sich sorgen um Sunray. Spielte dieser Sumpf etwa schon wieder ein gemeines Spiel mit ihr? Sie musste sich konzentrieren. Aber egal wie sehr sie es auch versuchte, schaffte sie es nicht das unsichere Gefühl, dass man ihr folgte, loszuwerden.
War das ein Atmen das sie hörte?
Hörte sie da so etwas wie Schritte hinter sich?
War sie wirklich allein?
Doch immer wenn Serenity sich umdrehte, war da niemand.
Dieser Sumpf wurde ihr von Sekunde zu Sekunde unheimlicher. Und es wurde auch immer dunkler, je weiter sie hineinging und schon bald musste sie ihr Horn entzünden um etwas sehen zu können. Hoffentlich würde sie Sunray bald finden.
Da! Diesmal hatte sie aber eindeutig etwas gehört! Sie drehte sich um und ließ ihr Horn heller leuchten. Nichts.
Serenity versuchte ruhig zu atmen. Sie hatte eindeutig schlurfende Schritte gehört und ein schweres, heiseres atmen.
„Komm schon", murmelte sie und dann sagte sie es noch mal lauter: „Komm schon! Zeig dich! Ich weiß, dass du da bist!"
Nichts passierte. Doch dann regte sich etwas hinter einem Baum und Serenity feuerte einen Zauber ab. Sie hatte sich geirrt. Es hatte sich nicht etwas hinter dem Baum bewegt, sondern der ganze Baum hatte sich bewegt. Genau wie jetzt auch. Er sprang dem Zauber aus dem Weg und rannte auf einmal mit seinen Wurzelfüßen auf Serenity zu. Sie sah wie ein Maul mit spitzen Zähnen senkrecht im Stamm aufklaffte.
Es war eine Schlingerle. Ein legendärer Baum, der in dunklen Wäldern unachtsamen Passanten auflauerte und sie hinterrücks verschluckte. Serenity hatte eigentlich geglaubt, dass das alles nur Schauergeschichten seien, Dinge die man Fohlen am Bett erzählte, aber das vor ihr war ohne jeden Zweifel eine Schlingerle.
Serenity feuerte einen weiteren Zauber auf den gefräßigen Baum ab. Dem machte das aber nicht viel aus, lediglich etwas Rinde splitterte ab. Er griff mit seinen knorrigen Ästen nach Serenity und wollte sie sich in sein weit aufgerissenes Maul stopfen. Serenity stemmte Vorder- und Hinterhufe nach links und rechts und hielt so das Maul offen, klemmte sich fest, während die Schlingerle verzweifelt versuchte, sie in ihren Schlund zu drücken.
„Nein, nein, nein", knurrte Serenity.
Die Schlingerle torkelte hin und her, wobei sie Serenity ihren nach Pilzen, Schlamm und Moder riechenden Atem entgegen stieß.
„Bäh!", sagte Serenity und feuerte einen weiteren Strahl direkt in den Rachen der Schlingerle. Eine kräftige, Staub aufwirbelnde Druckwelle stieß die beiden auseinander, Serenity rutschte über den Boden, Holz, Erde und Blätter regneten auf sie herab.
War die Schlingerle tot?
Nein, war sie nicht. Sie war schwer ramponiert, dass konnte Serenity sehen, als der Baum sich aus den Dunstschwaden löste, doch besiegt war er noch nicht. Ein großes Stück Holz war aus der Seite heraus gesprengt worden, doch das würde bestimmt bald wieder nachwachsen.
Aber die Schlingerle schien auch verwirrt zu sein. Wahrscheinlich bekam sie es nicht allzu oft mit jemanden zu tun, der zaubern konnte. Sie knarzte heiser, was in ihrer Sprache wohl etwas wie das Fauchen bei Katzen sein sollte. Serenity erwiderte das mit einem Funkensprühen ihres Horns und stampfte mit dem Vorderhuf auf.
Dann fing die Schlingerle an ihre Blätterkrone zu schütteln. Hin und her und vor und zurück raschelten die Blätter und nach wenigen Sekunden war die Luft erfüllt von tanzenden Samenstaub. Serenity bemerkte es erst als es zu spät war und sie schon einen tiefen Zug eingeatmet hatte.
Ihr Blick wurde trüb und ihr ganzer Körper schwer. Ihre Beine fühlten sich an, als würden sie jeden Moment zusammenknicken, trotzdem stand sie stocksteif da, ohne sich rühren zu können.
Die Schlingerle knirschte gehässig.
Jetzt war Serenity völlig wehrlos. Nicht mal zaubern konnte sie jetzt noch, weil der Pollenstaub ihr Gehirn vernebelte. Es war alles aus.
Die Schlingerle packte Serenity und hob sie hoch, um sie sich langsam und genüsslich ins Maul zu schieben. Das letzte was sie sehen würde, wäre der Schlund eines Baumes, das letzte was sie riechen würde, wäre dessen stinkender Atem und das letzte woran sie denken würde wäre Sunray.
Plötzlich erstarrte die Schlingerle mitten in der Bewegung. Sie ließ Serenity ein Stück sinken und blickte sich langsam um. Mit einem Mal sprang etwas aus dem Schatten, etwas das eine brennende Fackel schwang. Die Schlingerle wich verängstigt zurück, schließlich bestand auch sie nur aus Holz und Feuer war ihr natürlicher Feind. Die Gestalt schwang die Fackel hin und her, stieß sie vor, wie ein leuchtendes Messer und die Schlingerle schrak knirschend zurück, ließ Serenity zu Boden fallen um mit den Astarmen nach der Fackel schlagen zu können
Doch nun warf die Gestalt die Fackel mitten in die Krone der Schlingerle. Sie fing sofort Feuer. Lichterloh brennend und mit panisch wedelnden Armen stürmte die Schlingerle davon, wohl um sich im nächstbesten Tümpel selbst zu löschen.
Serenity versuchte aufzublicken. Es war nicht Sunray, der sie gerettet hatte, wie sie für einen Moment fast gehofft hatte, aber es war tatsächlich ein Pony. Der braune Erdponyhengst blickte auf sie herab und lächelte.
„Na, das war mal 'ne knappe Sache", sagte er.
Serenity versuchte sich zu bewegen.
„Ganz ruhig", sagte der Hengst. „Die Wirkung der Pollen hält nicht lange an. In ein paar Minuten wirst du dich wieder bewegen können."
Lag das auch an den Pollen oder sah der Typ wirklich so verschwommen aus? Serenity konnte ihn einfach nicht richtig ansehen, ohne dass ihre Augen an ihm abrutschten.
„Du hattest wirklich Glück", fuhr der Hengst fort. „Schlingerlen sind noch harmlos. Es gibt weitaus gefährlichere Wesen hier im Sumpf."
Langsam konnte Serenity wieder ihre Beine bewegen, auch wenn sie sich noch etwas steif anfühlten.
„Du hast es ja selbst erlebt. Dieser Sumpf kann einen in den Wahnsinn treiben. Du dachtest, du siehst einen Freund, dabei war das nur eine Flamme aus Sumpfgas. Man geht hier schnell verloren, körperlich, wie geistig. Ich selbst habe schon seit einer Ewigkeit niemanden hier gesehen. Und ich bin schon sehr lange hier."
Vorsichtig setzte Serenity einen Huf auf. So alt sah der Hengst doch gar nicht aus.
„Deinem Freund ist es nicht so gut ergangen wie dir", sagte der Hengst.
Serenity blickte auf. „Sunray."
„Der Geistschlucker hat ihn sich geschnappt. Wenn du dich nicht beeilst wird bald nicht mehr viel von deinem Freund übrig sein."
„Wo ist er?"
„Du willst wirklich zu ihm gehen? Jetzt könntest du noch umkehren, einen anderen Weg nehmen. Ich könnte dir den Weg hinaus zeigen. Wenn du zu ihm gehst wird der Geistschlucker auch da sein."
„Das ist mir egal", sagte Serenity unwirsch.
Der Hengst lächelte. „Dein Mut gefällt mir", dann sagte er mehr zu sich selbst: „Ja, vielleicht... Man soll nie die Hoffnung aufgeben. Na schön Mädchen. Folge den Schatten der Bäume. Folge immer ihrer Richtung, dann wirst du deinen Freund finden."
Serenity blickte in die angegebene Richtung. Dann noch mal zum Hengst.
„Dahin kann ich dich nicht begleiten", sagte er.
Serenity nickte. „Danke", sagte sie dann. Sie wollte schon losstürzen, als sie sich noch einmal umdrehte. „Ich weiß gar nicht, wie sie heißen." Doch der braune Hengst war schon verschwunden. Einfach so.
Sernity lief los.
Dieser Sumpf war wirklich voller Geister.

Sunray - Das Geheimnis der Sternstadt (My Little Pony Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt