Zwei

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„Ich habe ganz vergessen, wie schön deine Wohnung ist. Könnte aus einem verdammten Katalog sein", stelle ich fest, als ich im Flur von Isabells kleinem Reich stehe.

Die Möbel sind alle schlicht gehalten in hellen Tönen. Alles passt perfekt zusammen, aber es macht den Eindruck, als gäbe es hier nichts, was schreit hier wohnt Isabell Kayser. Alles wirkt steril und tadellos sauber. Ich entdecke keinen Fleck auf dem Boden und kein Krümel auf dem Esszimmertisch. Ebensowenig Fotos oder persönliche Gegenstände. Entweder hat meine Schwester ihre persönlichen Dinge in ihrem Schlafzimmer oder sie hat wirklich keine.

„Wohnst du hier überhaupt oder hast du eine Putzfrau, die auch hier wohnt?", frage ich sie sarkastisch.

„Ja und nein."

Isabell stellt ihre Tasche auf das weiße Ledersofa auf dem eine braune Decke liegt. Mir ist nie bewusst gewesen, wie viel Geld sie mittlerweile hat. Von ihrem Job als Lehrerin kann sie gut leben und vielleicht hat ihr Verlobter auch einen guten Verdienst. So wie ich Isa kenne, wird sie sich keinen Mann ausgesucht haben, der ein totaler Dummkopf ist. Ein gewisses Maß an Intelligenz war ihr schon immer wichtig. Wahrscheinlich haben wir uns deswegen nie besonders gut verstanden. Ich war ihr einfach nicht klug genug.

„Und ich sage es lieber gleich schon: wenn du etwas klaust, dann kannst du dir was anderes suchen, wo du umsonst wohnen kannst", warnt Isabell mich mit ihrer Lehrerstimme.

Zumindest stelle ich es mir vor, dass sie so mit ihrer Schülern spricht, wenn sie die kleinen Biester ermahnt leise zu sein oder ihnen eine Strafarbeit androht.

„Okay."

Ich gehe durch das Wohnzimmer, vorbei an diesem großen Fernseher und einer unechten Pflanze. Isabell war noch nie gut darin sich um Pflanzen oder Tiere jeglicher Art zu kümmern. Die Pflege ihres Kaninchens ist damals an unseren Eltern hängen geblieben und alle Blumen, die sie zu Geburtstagen geschenkt bekam, sind vertrocknet.

„Hast du eigentlich Netflix?", frage ich sie und schlendere durch den Flur.

Ich höre, wie Isabell mir folgt. Sicher ist sie jetzt schon von mir genervt, aber da ich ihre kleine Schwester bin, die ohne sie obdachlos wäre, sagt sie nichts. Vielleicht ist das gerade der Grund, wieso ich so kühl ihr gegenüber bin. Wir sind immer noch Schwestern, aber wir haben uns von einander entfernt und das ist nicht nur meine Schuld. Isabell mag das denken, aber da hat sie unrecht.
Schließlich ist sie gegangen, nachdem unsere Eltern sich haben scheiden lassen und hat mich mitten im Minenfeld zwischen Mom und Dad alleine gelassen. Sie hat sich einfach aus allen rausgehalten während ich mir die Streitereien anhören musst und von mir verlangt wurde, dass ich mich für eine Seite entscheide. Isabell war schon volljährig und aus der Nummer raus, aber ich nicht. Ich musste das ganze ertragen und sie hat sich aus dem Staub gemacht und mich alleine gelassen.Trotzdem ganzen Mist, der da los war, fragen sich immer noch alle, wie ich zu einem Junkie geworden bin. Natürlich war alles meine Schuld, weil ich so naiv und dumm war. Tolle Familie, die ich da habe. Mal sehen, wie lange es dauern wird, bis meine Eltern sich bei mir melden. Ich werde sie nicht anrufen. Sie haben mich rausgeworfen und so getan, als hätte ich nie existiert.

"Ja", murmelt Isabell, die mir immer noch folgt. "Und hör auf hier alles anzufassen."

"Sei doch mal nicht so spießig."

Ich öffne ein paar Türen im Flur und schaue in die Räume dahinter. Badezimmer, ein Arbeitszimmer, das Zimmer meiner Schwester und ein Gästezimmer, das laut Isabell meins sein wird. Das Bett kommt mir riesig vor, genauso wie der Schrank, der total überflüssig ist. Ich habe nicht gerade viele Klamotten. All meine Sachen haben in einen großen Rucksack gepasst. Geld, um mir etwas Neues zu kaufen habe ich keine. Ich werde wohl erst einmal mit dem auskommen müssen, was ich habe.

"Ich habe meinen Kleiderschrank vor ein paar Wochen ausgemistet und dir sie Sachen neben das Bett gestellt", meint Isabell und deutet auf einen prall gefüllten Wäschekorb.

"Danke", murmele ich.

Ich bezweifele zwar, dass da etwas dabei sein wird, dass mir passt, aber es ist aufmerksam von meiner Schwester, weswegen ich die Klappe halte. Isabell und ich waren schon immer komplett verschieden. Mittlerweile trägt sie edle Sachen, Blusen und Röcke. Röcke waren schon immer ihr Ding. Später werde ich mir den Kram mal ansehen. Ich lasse meinen Rucksack auf den Boden fallen und sehe mich etwas genauer um. Das Bücherregal an der Wand ist voll gestopft mit den unterschiedlichsten Büchern. Das Fenster ist groß und auf dem Fensterbrett steht eine unechte Blume. Dieses Zimmer ist schöner als das in der Entzugsklinik. Hier wird es sich gut leben lassen.

Plötzlich höre ich Schritte im Flur. Isabell steht immer noch neben mir, was bedeutet, dass sie es nicht sein kann. Sie wirkt so gelassen, als wäre gar nichts.

"Schatz, ich bin zuhause", ruft ein Mann durch die Wohnung.

Das muss dann wohl der Verlobte sein.

"Wohnt der etwa hier?", frage ich meine große Schwester patzig.

"Holden und ich wohnen schon länger zusammen."

Wieso hat sie das nicht früher erwähnt? Wütend blicke ich sie an. Ich werde hier also mit Isabell, ihrem Lover und den unechten Pflanzen wohnen. Na super! Ich hasse es, dass mir nie jemand etwas erzählt.

"Hey", sagt Isabell und dreht sich um.

Ich verziehe das Gesicht, als Holden Isabell einen Kuss auf die Wange drückt. Ihr Freund sieht genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Blonde Haare, groß, perfekte Zähne und sportlich. 0815.

"Du musst dann wohl Riley sein?", fragt er mich.

"Ja", bringe ich hervor.

Ich mag ihn jetzt schon nicht.

"Freut mich. Ich bin Holden", stellt er sich mir vor.

"Das habe ich mir schon gedacht."

Ich dränge mich an den beiden vorbei aus dem Zimmer und gehe in die Küche. Dort angekommen durch forste ich die Schränke auf der Suche nach etwas alkoholischem.

"Du kannst aufhören zu suchen. Den Wein und Schnaps habe ich versteckt", sagt Isabell, die mir gefolgt sein muss.

Stöhnend drehe ich mich zu ihr um. Sie sieht mich finster an. Es ist selten, dass man Isa nicht Lächeln sieht. Ich habe sie ohne Zweifel verärgert.

"Sei nett zu Holden, okay?", bittet sie mich. "Wir wohnen hier zusammen und er hat nur widerwillig zugestimmt, dass du hier wohnen darfst. Also benimm dich!"

"Du musst nicht mit mir sprechen, als wäre ich sieben", motze ich sie an. "Ich werde ihn dir schon nicht vergraulen."

Isabell sieht mich noch einmal warnend an, bevor sie geht. Wahrscheinlich um mit ihrem liebsten zu reden. Dann werde ich Holden eben ignorieren. Alles ist besser als obdachlos zu sein. Dann nehme ich es eben in Kauf mit so einem Typen zusammen zu wohnen.

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