Kapitel 3

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Mit einer Tüte in der Hand, Kopfhörern auf meinen Ohren, aus denen MKTO mit ihrem neuen Song ertönte, ging ich zu meiner Grandma. In der Tüte war Brot, Aufstrich und der ganze Kram. Was würde Grandma sagen? Wusste sie schon, dass ich schwanger war? Wie würde sie reagieren? Meine Übelkeit stieg wieder hoch. Ganz ruhig! Du darfst jetzt nicht kotzen! Meine Grandma wohnte nur einige Straßen weiter. Sie war die Mutter meines Vaters und schon 70 Jahre alt. Sie war aber noch ganz schön fit für ihr Alter. Die Mutter meiner Mom wohnte in New Mexico. Sie war genauso temperamentvoll wie meine Mom, denn sie kam eigentlich aus Mexico. Sie ist mit 30 in die USA gekommen und hatte dort einen Amerikaner kennengelernt. Meine Mom war halb Mexikanerin und ich hatte zu einem Viertel mexikanisches Blut in mir. Meine Abuela, oder auch Grandma, würde wahrscheinlich genauso reagieren, wie Mom. Ich war da. Ich stand entspannt vor der Haustür. Irgendwie hatte ich keine Angst. Ich wollte gerade klingeln, als plötzlich die Tür aufging. Meine Grandma nahm mich sofort in den Arm. „Ach meine Kleine, ich weiß alles und ich werde dich unterstützen. Ich bin immer für dich da, wenn du jemanden zum Reden brauchst!" Ich war völlig überrumpelt. Aber mir fiel ein Stein vom Herzen. Sie wusste es schon. Meine Grandma nahm mir die Tüte aus der Hand und ging zur Küche. Ich folgte ihr. „Wirklich, ich bin immer für dich da." Sagte sie noch einmal und stellte die Tüte auf die Küchenarbeitsplatte. „Danke, Grandma", sagte ich. Es tat gut, nicht mehr dafür angeschrien zu werden. Ich fühlte mich bei meiner Grandma geborgen und sicher. Sie holte einen Teller mit Keksen aus dem Kühlschrank und ging dann weiter zum Wohnzimmer, wo sie sich in einen riesigen Sessel setzte. Ich erinnerte mich daran, dass ich immer davor auf dem Boden saß und sie mir dann etwas vorlas. Ich setzte mich auf das Sofa quer gegenüber. Vor mir auf dem Sofatisch standen die Kekse, von denen ich sofort einen nahm. Das waren die besten Cookies aller Zeiten. Meine Grandma konnte allgemein gut backen. Meine Abuela aus New Mexico konnte wiederum gut kochen. „Woher weißt du das eigentlich?", fragte ich meine Grandma und legte meine Hand auf meinen Bauch. „Deine Mom hat mich gestern angerufen und mir alles erzählt. Sag mal, wie hat eigentlich der Vater des Kindes reagiert? Ist das dein Freund? Ich konnte das Gebrabbel und Geheule deiner Mutter gestern nicht so gut verstehen." Ich seufzte und starrte aus dem großen Fenster gegenüber. Brock. Er fehlte mir so doll. Ich wäre jetzt so gerne in seinen starken, tröstenden Armen. Ich würde so gerne seinen Geruch einatmen, ihm einfach nur nah sein. Schnell schüttelte ich den Kopf. Ich konnte nichts machen. Er war in Afghanistan und ich in Amerika. „Brock, mein Freund der nach Afghanistan gegangen ist, weil er bei der U.S. Army ist, ist der Vater. Er war geschockt, meinte aber, dass er mich unterstützen wird und er will das Kind behalten", sagte ich. „Das ist ein guter Junge. Wie sind seine Eltern mit dieser Situation umgegangen?" Ich schluckte. Kathleen hatte mich beleidigt. So war sie noch nie zu mir gewesen. „Als ich da war, habe ich nur seine Mutter getroffen, aber sein Vater und seine Schwester fanden es nicht so schlimm und wollen mich und ihn unterstützen. Die Mutter von Brock war stinksauer auf mich und hat mich als dumm und Idiotin beleidigt. Brock meint, er hätte zu ihr gesagt, sie solle sich bei mir entschuldigen, weil das nicht nur meine Schuld sei, sondern auch seine." Ich griff mir einen weiteren Keks. „Er ist ein guter Junge", sagte Grandma wieder. Sie kannte Brock von ihrem 69. Geburtstag. Ich hatte ihn an dem Tag einfach mitgebracht. Meine Grandma stand auf. Sie ging auf ein Regal zu und schob ein paar Bilderrahmen zur Seite. Sie holte einen anderen Bilderrahmen hervor und kam wieder auf mich zu. „Hier." Sie hielt mir den Bilderrahmen hin. Ich kannte das Bild. Auf dem Foto waren Brock und ich zu sehen. Wir standen Arm in Arm vor Grandmas Geburtstagstorte. Man sah uns die Verliebtheit an. Wir hatten an dem Tag keine Ahnung, was noch alles auf uns zukommen würde. „Behalte das Bild!", sagte meine Grandma. „Grandma das geht doch nicht!" Ich wusste, wie sehr sie an jedem einzelnen Foto hier hing. Fotos ließen sie der Person auf dem Bild gefühlsmäßig näherkommen. Die meisten Fotos, die hier hingen und standen, waren Fotos von Grandpa, der gestorben ist, bevor ich geboren wurde. „Ich denke, jetzt brauchst du das Foto von Brock nötiger als ich." Mein Magen drehte sich um. „Danke Grandma, aber ich kann es nicht annehmen. Es gehört in deine Sammlung und ich habe noch andere Fotos auf meinem Handy", sagte ich und nahm sie in den Arm. Grandma legte ihre alte, faltige Hand auf meine. Das fühlte sich gut an. Das gab mir Kraft. „Egal was passiert, ich bin immer für dich da!" Ihre sanfte, vom Alter gezeichnete Stimme berührte mich. Ich war nicht alleine. Ich hatte Menschen, die mich unterstützten, mir halfen und immer für mich da waren.
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„Tja, das ist natürlich ein großes Missgeschick, das niemand von uns hat kommen sehen. Sie sind eine exzellente Schülerin und einen Collegebesuch hätten sie fast schon in der Tasche gehabt." Meine Eltern und ich saßen im riesigen Büro der Direktorin Penara. Sie war wie meine Mom halb Mexikanerin und ungefähr Mitte vierzig. Sie saß an ihrem großen, aus Eichenholz gefertigten Schreibtisch und schaute sich das Attest und die Ultraschallbilder an, dabei knetete sie ihre Hände. Ich fand es total beschämend, ihr von meiner Schwangerschaft erzählen zu müssen. Ich starrte auf den Boden, um der Direktorin nicht in die Augen sehen zu müssen. Ich wusste, dass ich intelligent war, dass ich es auf ein College schaffen könnte. Das Baby machte aber alles kaputt. Vielleicht würde ich als Putzfrau enden? „Ich hätte da eine Idee, Amber ist ja jetzt in der 11. Klasse. In einer Woche ist Springbreak, dann sind Ferien. Sie könnte das Ende des 11. Schuljahres und dann ein Jahr aussetzen. Danach wieder in die 12. Klasse einsteigen, damit sie ihr High-School Diploma bekommt, oder sie könnte die Highschool Online abschließen. Sie können zwischen diesen beiden Optionen wählen, aber egal wofür Sie sich entscheiden, Sie müssen während Ihrer Schwangerschaftspause trotzdem lernen, lernen, lernen, in Ordnung?" Ich nickte und schaute immer noch auf den Boden. Mir fiel ein riesengroßer Stein vom Herzen. Ich konnte also doch noch an irgendeinem College studieren. Aber wo sollte das Baby dann hin? Was war mit Brock? Würde er dann noch da sein? „Na dann, vielen Dank Mrs Penara", sagte mein Vater. „Ich wünsche Ihnen allen noch viel Erfolg!", sagte sie lächelnd und stand auf. Ich schaute hoch und merkte, dass auch meine Eltern standen und mich erwartungsvoll anschauten. Ich schüttelte Mrs Penara die Hand und flüsterte einen leisen Dank. „Heute bleibt Amber zu Hause, ihr geht es nicht so gut, aber morgen kommt sie wieder", sagte meine Mom und schaute mich an. Ich konnte ihren Blick nicht deuten, aber ihre Gegenwart machte mich nervös. Sie hatte etwas kaltes in ihrem Blick und seit ich ihr von meiner Schwangerschaft erzählt hatte, kam es mir so vor als behandele sie mich nicht mehr so liebevoll wie vorher. Mrs Penara nickte und entließ uns aus ihrem Büro. Ich hoffte inständig, dass mir kein Mitschüler über den Weg lief. Ich wollte nicht reden. Während wir zum Auto auf den Parkplatz gingen, senkte ich meinen Blick auf den Boden. Obwohl der Unterricht schon angefangen hatte, waren einige Schüler noch draußen. Schnell setzte ich mich auf den Rücksitz des Wagens. Meine Mutter startete den Motor. Es war still, noch nicht mal das Radio lief. „Amber, ich möchte dass du mir sagst, welche Version du besser findest?" fragte meine Mutter nach ein paar Minuten. Was? Jetzt schon? „Ich werde eine Klasse wiederholen und ich werde trotzdem meinen College-Abschluss schaffen, das hat Mrs Penara gesagt." Ich verschränkte meine Arme und lehnte meinen Kopf gegen die Autoscheibe. „Wenn du so weitermachst, wie in den letzten Tagen, dann schaffst du das nicht." Ich wollte nicht mehr hier sitzen. Ich musste hier raus. Ich verspürte das Bedürfnis die Fensterscheibe einzuschlagen und rauszuklettern. „Was ist dein Problem Mom, ich habe gute Noten!" „Du bist faul!" Ich wusste, es hatte keinen Sinn mit meiner Mutter darüber zu diskutieren, ob ich eine gute Schülerin war oder nicht. Ich würde hart arbeiten und aufs College gehen, nur damit ich nicht mehr das Gefühl hatte, dass mich meine Mutter hasste. Sie lenkte den Wagen in die Einfahrt. Anstatt Wut, verspürte ich nur noch Trauer. Ich war die schlimmste Tochter, die es gab.
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„Amber hast du alles? Du solltest nicht zu spät zu deiner ersten Vorsorgeuntersuchung kommen. Amber!" Ich hatte den Terminzettel für die Untersuchung in meiner Hand und ohne es zu merken, hatte ich ihn zusammengedrückt. Ich konnte die Stimme meiner Mutter einfach nicht mehr hören. Immer wenn ich Mom hörte oder sah, löste das eine Welle von Gefühlen in mir aus. Wut, Enttäuschung und Trauer. Ich dachte mir immer, dass meine Mutter mich lieben würde, egal was passierte, aber ich hatte mich wohl getäuscht. Sie wollte mich bestimmt nicht mehr zur Tochter haben, das konnte ich nachvollziehen. Es tat weh. Sie behandelte mich wie das letzte Stück Dreck. Und sie war nicht die einzige. Ich hatte Kathleen am Samstag beim Einkaufen gesehen. Sie hatte mich nur einmal angesehen und blickte dann schnell in eine andere Richtung. Sie hatte nicht hallo gesagt, nicht gelächelt. Nur ihre Augen hatten den Ausdruck tiefer Verachtung. Ich hatte jeden Abend mit Brock telefoniert, aber die Telefonate waren nicht mehr so wie vor einer Woche. Jetzt waren wir zurückhaltender und die meiste Zeit schwiegen wir nur. „Amber, komm endlich!", rief meine Mutter nun lauter. Ich schloss kurz meine Augen und atmete durch. Es gibt keinen Grund, dich aufzuregen Amber, alles wird gut. Ignorier einfach, was deine Mutter sagt. Doch so einfach war das nicht. Kaum hatte ich mich auf den Beifahrersitz gesetzt und meine Mutter war losgefahren, fing sie schon wieder an zu reden. „Eigentlich solltest du das alleine machen. Schließlich ist das dein Kind und du hast alles zu verantworten." Warum bist du dann mitgekommen? Ich sagte nichts und schaute aus dem Fenster. Ich schaute in den Rückspiegel, in dem ich meine Mutter teilweise sehen konnte. Seit sie von meiner Schwangerschaft erfahren hatte, war es das erste Mal, dass wir beide alleine waren. Ich hielt meinen Atem an denn ich wusste, dass gleich noch mal eine Predigt kam. Sie hatte noch nicht wirklich die Gelegenheit dazu gehabt. „Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Ich habe dich nicht so erzogen", sagte sie und betätigte den Blinker. „Warum bloß muss meine Tochter so dumm sein?" Ich wusste, dass sie das mit Absicht machte. Sie wartete nur darauf, dass ich platzte, aber das würde nicht passieren. Nicht dieses Mal. Meine Gedanken schweiften zur Schule, um mich abzulenken. Am Montag in drei Tagen würde der letzte Schultag sein. Ich seufzte. Es nervte mich, meine Mutter so reden zu hören. Ich hatte erwartet, dass es mich verletzten würde, aber das tat es nicht. „Es ist doch jetzt alles geregelt, Brock behält das Kind", sagte ich und strich mir eine lose Haarsträhne hinter meine Ohren. „Was will er denn damit? Er ist doch sowieso nicht da." Ich musste ihr diesmal Recht geben. Manchmal war Brock nicht zu verstehen. Die nächsten zwei Stunden rauschten nur an mir vorbei. Ich wurde gewogen, mein Blut wurde abgenommen und es wurde noch eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt. Während der ganzen Untersuchung war meine Mutter verschlossen. Sie starrte die ganze Zeit nur vor sich hin. Einerseits war das gut, weil sie dann endlich still war. Anderseits wusste ich, dass sie am liebsten weinen wollte. Sie tat mir leid. Für alle war ich nur eine Last und ich wusste, es konnte so nicht mehr weitergehen.

Neun Monate ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt