„Na gut, Pete und Amber halten draußen Wache. Kate, Joe, Angeles und ich holen die Schlüssel während Henry von unserem Hauptquartier aus alles leitet", sagte Nate und führte uns übrigen fünf durch den Wald. „Das wurde auch langsam Zeit, dass wir mal wieder in Aktion sind", sagte Kate und klatschte in die Hände. „Das letzte Mal ist noch gar nicht so lange her, Schwesterherz. Vier Tage, um genau zu sein." Joe, der Typ der neben Harry im Hauptquartier gesessen hatte, zog Kate an sich und fuhr mit seiner Hand durch ihre Haare. Schwesterherz? Die beiden waren Geschwister? Ich zog mein Handy aus der Jackentasche und sah auf die Uhr. Es waren nur fünf Minuten vergangen, seit ich das letzte Mal nach der Uhrzeit gesehen hatte und wieder sah mich Ezras Bild vom Display aus mit seinen hellblauen Augen an. Wenn ich sein Bild noch länger angesehen hätte, wäre ich umgekehrt und nach Hause gegangen. Ich schaltete das Handy aus. Die vernünftige Seite in mir sendete verzweifelte Signale aus, ich möge umkehren. Doch ein anderer, dunkler Teil meines Ichs war stärker. Ich hatte das Gefühl, hier bei Nate bleiben zu müssen. „Sag mal, Amber, vermisst du die USA nicht?" Angeles lief jetzt neben mir. Ich schüttelte den Kopf. Einen kurzen Augenblick dachte ich an Sophie und einen Wimpernschlag später an meine Mutter und an Kathleen. Mein Magen fühlte sich an, als würde ihn jemand wie einen Waschlappen auswringen. Sogar die Gedanken daran taten mir unendlich weh. Nichts hielt mich dort. Nichts vermisste ich, außer meinen Erinnerungen. Die schönen Erinnerungen an Brock und Sophie. „Ich war noch nie in den USA, nur mal in Kolumbien", sagte Angeles weiter. „Bist du Kolumbianerin?", fragte ich interessiert. Sie sah südamerikanisch aus und hatte einen spanisch klingenden Namen. „Jap. Und Petes Eltern kommen aus Mexiko. Wir sind zusammen mit meiner Schwester die einzigen Latinos im Umkreis von 40 Meilen in und um Redford Woods." „Meine Mom ist zur Hälfte Mexikanerin", erzählte ich ihr. „Cool, sprichst du Spanisch?" „Ein bisschen. Ich habe das von meiner Oma gelernt." Angeles drehte sich um und ging zurück. „Schneller", sagte sie. Auch ich blickte mich um. Pete war ein paar Schritte hinter uns und hatte Schwierigkeiten, unser Tempo zu halten. Er keuchte und fluchte auf Spanisch vor sich hin. „Geht ihr alle in die Redford Woods School?" fragte ich, als wir weitergingen. Angeles schüttelte den Kopf. „Joe, Pete und Henry haben im Sommer die Schule abgeschlossen. Kate und ich haben die Schule in der 11. Klasse abgebrochen, aber im Gegensatz zu Kate fange ich nach Weihnachten ein Praktikum in einem Kleiderladen in London an und bekomme vielleicht später einen Job dort. Das heißt, du und Nate, ihr seid die einzigen vor uns, die noch in die Schule gehen." Still gingen wir weiter. Ich hörte das Rascheln der Blätter, das Knacken von Zweigen, den keuchenden Atem der anderen und von vorne Nates Stimme. Nate ging voran, Kate lief neben ihm her und bemühte sich, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Dabei versuchte sie mehrmals, Nates Arm und seine Hand zu berühren, was ihr aber nicht wirklich gelang. Aus meiner Perspektive wirkte das ziemlich albern. Nate zeigte Kate gegenüber mehrmals seine ablehnende Haltung. Je länger ich die beiden betrachtete, desto mehr gefiel mir das. „Sind Kate und Nate zusammen?" fragte ich, ohne den Blick von den beiden abzuwenden. Ich spürte, wie sich bei dieser Frage ein Kloß in meinem Hals bildete. Wieso interessierte mich das? Angeles lachte auf. „Nein. Nate würde niemals was mit Joes kleiner Schwester anfangen. Zwischen den beiden gilt die Regel Bros vor Hoes." Erleichterung verbunden mit einem Anflug von Aufregung breitete sich in mir aus. Wieso nur freute ich mich darüber? Ich versuchte, meine Gedanken auf das zu lenken, was wir jetzt vorhatten. „Wieso bitten wir den Besitzer des Hauses eigentlich nicht um den Schlüssel?", fragte ich und rieb meine kalten Hände an der Hose. Angeles starrte geradeaus und ich dachte schon, sie würde mir nicht antworten. „Weil er das nicht wissen darf." Also brachen sie doch in das Haus ein. Ich biss auf meine Unterlippe, um diesen Satz nicht auszusprechen und mein Wunsch umzukehren wurde noch stärker. Nate hatte gelogen, es war doch illegal. „Und was genau braucht ihr aus diesem Lagerhaus?", fragte ich und versuchte, die Stimme der Vernunft, die mich immer stärker zur Umkehr drängte, aus meinem Kopf zu verbannen. Noch während ich so mit mir kämpfte, lichtete sich das Dickicht des Waldes und ich erkannte eine Straße vor uns. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
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Wir standen auf der Straße vor einem großen Haus. Es war einsam gelegen und nur von Wiesen umgeben. Mein Magen zog sich zusammen. Ich hatte Angst. Die ganze Situation war mir irgendwie unheimlich. Jemand legte mir eine Hand auf die Schulter und ich blickte zur Seite. Nate sah mich an, als ob er bemerkte, dass es mir überhaupt nicht gut ging. Es fühlte sich so an als ob von seiner Hand auf meiner Schulter, ein Stromstoß auf mich überspringen würde. Besser. Kate warf mir währenddessen finstere Blicke zu. Sie hatte was gegen mich. Joe gab die Anweisungen: „Okay, also Pete, du wirst vor dem Haus gegenüber auf der anderen Straßenseite Wache stehen. So hast du auch Straße besser im Blick und kannst uns warnen, sobald sich jemand dem Haus nähert. Angeles du wartest hinter dem Haus und Amber, du bleibst einfach im Haus vor der Haustür. Ihr passt auf, dass niemand kommt. Sobald ihr jemand kommen seht, schickt ihr Nate eine Nachricht mit euren Handys. Kate, Nate und ich suchen im Haus. Alles klar?" Die anderen nickten. Angeles lief hinter das Haus während Pete die Straße überquerte. Ich folgte Nate, Joe und Kate, die sich in Richtung Haustür bewegten. Joe zog einen länglichen, silbernen Gegenstand aus der Jackentasche, der - wie ich später erfuhr - Spanner heißt und steckte ihn in das Schloss der Haustür. Er rüttelte ein paar Mal, dann schwang die Tür lautlos auf. Vor uns erstreckte sich ein langer Flur. Es sah sauber und ordentlich aus. Der Boden war weiß gefliest und ein langer, roter Teppich führte zu einer großen Treppe an der rechten Seite des Flurs. Joe schloss die Tür hinter uns und deutete auf den Rand des vor uns liegenden Teppichs. „Bleib hier stehen", sagte er zu mir und ging mit den anderen die Treppe hoch. Nervös biss ich mir auf die Unterlippe und klammerte mich an mein Handy. Die ganze Zeit spukte mir ein einziger Gedanke durch den Kopf: Wir werden erwischt. Mehrmals sperrte und entsperrte ich mein Handy, nur um etwas zu tun zu haben und nicht vor lauter Angst davonzulaufen. Immer wieder fuhr ich mir mit der Zunge über die trockenen Lippen. Wieso hatte ich bloß mitgemacht? Aus dem Obergeschoss erklang ein Poltern, gleichzeitig hörte ich jemand fluchen. Das war Kate. Dann hörte ich, ein Klimpern, als würden Schlüssel an einem Schlüsselbund bewegt. Als nächstes hörte ich Schritte. Nate, Joe und Kate kamen die Treppe herunter. Endlich. „Los, raus hier!", sagte Nate und lief an mir vorbei, Richtung Haustür. Er riss die Tür auf und lachend fielen die drei beinahe heraus. Mein Gesicht fühlte sich heiß an und meine Mundwinkel zuckten. Die Angst war aus meinem Körper gewichen, stattdessen durchflutete mich eine Welle der Erleichterung. Am ganzen Körper verspürte ich ein Kribbeln. Ich konnte mich nicht länger beherrschen und fing ebenfalls laut an zu lachen. Meine Angst war verflogen, es blieb nur noch Aufregung. Eine lustige Aufregung, wir lachten nur noch. „Gute Arbeit Leute!", kicherte Kate. Immer noch lachend trennten wir uns und jeder ging seinen Weg nach Hause. Wie im Rausch ging ich die Straße entlang. Ich fühlte mich leicht und wie in rosa Watte eingepackt. Es dauerte nicht lange, da tauchte die Wiese mit Coleens roter Scheune vor mir auf. Immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen steckte ich den Schlüssel ins Türschloss. Im nächsten Augenblick erstarb mein Lächeln. Die Haustür war offen. Mein Herz fing an zu rasen und nur ein einziger Gedanke durchzuckte mich: Jemand war in meinem Haus. Dieser Gedanke traf mich wie ein Schlag. Oh Gott, Ezra! Hoffentlich war ihm nichts passiert. Ich stürmte ins Haus, ohne meine vom feuchten Waldboden verschmutzten Schuhe auszuziehen. Im Wohnzimmer brannte Licht. Mit Angstschweiß auf der Stirn, trat ich ins Wohnzimmer und blieb wie versteinert stehen. Auf meinem Sofa saß Coleen. Ezra lag in ihrem Arm und sie gab ihm gerade sein Fläschchen. Sie blickte mich mit ausdrucksloser Miene an. Scheiße! War sie wütend, traurig oder enttäuscht? „Wo warst du?", fragte sie. Ihre Stimme war ruhig. Ich versuchte ihrem Blick auszuweichen. Dass ich gerade in ein Haus eingebrochen war und bei einem Diebstahl mitgemacht hatte, konnte ich ihr doch nicht sagen. „Ich musste ein Schulprojekt mit einem Mitschüler aus meiner Klasse bearbeiten", sagte ich und sah dabei auf meine Schuhe. Ich konnte sie nicht ansehen, während ich sie anlog. Das hatte sie nicht verdient. „Und deshalb hast du Ezra hier alleine gelassen? Ein zwei Monate altes Baby?", entgegnete sie. „Ich konnte ihn nicht mitnehmen und er hat sowieso die ganze Zeit geschlafen. Außerdem hätte ich über die Babyphone-App auf meinem Handy gehört, wenn Ezra geweint hätte. Dann wäre ich sofort gekommen." Ich sprach jetzt zu meinen Füßen. „So etwas macht man nicht, Amber. Und hast du schon gesehen, wie spät es ist? Es ist fast neun Uhr." Ich hob den Kopf und sah Coleen an. Ihr Blick wanderte zu meinen Schuhen, die eine Schmutzspur auf dem Boden hinterlassen hatten. Ich dachte, Coleen würde etwas dazu sagen, aber sie schwieg. „Naja, jetzt hast du es ja hoffentlich gelernt", sagte sie und stand auf. Sie klang enttäuscht. „Ich hoffe für dich, dass das nicht noch einmal passiert." Sie legte mir den schlafenden Ezra in den Arm und verließ das Haus ohne weitere Worte. Ich atmete auf. Coleen hatte keine weiteren Fragen gestellt. Es war ein Fehler, Ezra allein zu lassen. Das hätte ich nicht tun sollen. Behutsam legte ich Ezra in sein Bett. Als ich meine Schuhe ausgezogen und den Boden saubergemacht hatte, sah ich auf mein Handy. Eine Nachricht war angekommen. Es war voll cool heute mit dir. Meine Hände fingen wieder an zu zittern und ich lächelte. Dieses Lächeln ging den ganzen Abend nicht mehr weg. Ich öffnete die Messenger-App und tippte als Antwort: Fand ich auch.
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Mein vibrierendes Handy am Kopfende meines Betts ließ mich aus dem Schlaf hochfahren. Die Sonne schien direkt ins Gesicht und ich blinzelte. Verschlafen rieb ich mir die Augen. In der Nacht war ich mehrmals aufgestanden, weil Ezra nicht schlafen konnte. Das war eigentlich normal, aber diesmal war ich selbst auch zu spät ins Bett gegangen. Normalerweise lag ich abends schon um sieben Uhr im Bett. Ich richtete mich auf und griff nach meinem Handy. Es gab zwei neue Nachrichten von Julie. Amber ist alles okay bei dir? Wo bist du? Ich runzelte die Stirn und blickte auf die Uhrzeit. Halb zehn. „Oh Mist", war alles, was ich sagte, bevor ich aus dem Bett sprang und in Rekordzeit meine Schuluniform anzog. Mit dem Fuß zog ich den Rucksack unter meinem Bett hervor und band dabei die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann rannte ich nach unten in die Küche und setzte Wasser auf, während ich Milchpulver in Ezras Fläschchen füllte. Danach rannte ich wieder nach oben und holte Ezra aus seinem Bettchen. Während ich neue Windeln und einen sauberen Jumper aus der Kommode holte, wählte ich Coleens Nummer und klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter, während ich Ezras Windel wechselte und ihn anzog. „Coleen, ich habe verschlafen und werde es nicht rechtzeitig zur Schule schaffen, wenn ich Ezra noch zu Julie bringen muss, könntest du das für mich machen? Nur dieses eine Mal, versprochen. Ich werde dir auch eine Woche im Stall helfen, ohne dafür Geld zu verlangen, sagte ich sofort, als Coleen abnahm. Sie seufzte. „Okay, aber nur dieses eine Mal. Ich komme." Ich knöpfte Ezras Jumper zu und schulterte meinen Rucksack. Anschließend ging ich in die Küche, wo ich das heiße Wasser in Ezras Flasche füllte. „Amber? Bist du noch da?", ertönte Coleens Stimme vom Eingang her. „Ja, ich bin in der Küche", rief ich und schüttelte die Flasche, um das Milchpulver im Wasser aufzulösen. „Gib ihn mir, na los, lauf zur Schule", sagte Coleen, als sie in die Küche kam. Ich legte ihr Ezra in den Arm und stellte das Fläschchen auf die Arbeitsplatte. „Danke, danke, danke! Das passiert auch nie wieder", versprach ich Coleen im Hinausgehen, während ich den Rucksack auch über die jetzt freie Schulter zog. „Na los, lauf!", rief Coleen und ich hastete los. Ich kam gerade noch rechtzeitig zum zweiten Klingeln in der Schule an. Nate war nicht da.
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Neun Monate ohne dich
Teen FictionEr kämpft für sie- Sie kämpft mit sich Amber Shivers lebt das normale Leben einer 16 Jährigen. Bis der Junge, den sie liebt, als Soldat nach Afghanistan in den Krieg zieht und ihr ein riesiges Abschiedsgeschenk hinterlässt. Ein Baby. Brock kann nich...