„Das Essen ist gleich fertig, kommt ihr rüber?", fragte Coleen. Sie hatte schon früh das Familientreffen verlassen, um Essen zu kochen und war nach einer gefühlten Ewigkeit, in der wir alle auf dem Sofa saßen und mit Ezra "spielten" wiedergekommen, um uns zu Tisch zu bitten. Ich fand es schrecklich, die ganze Zeit mit Kathleen in einem Raum zu sein. Die anderen schienen das nicht zu bemerken. Kathleen hatte Ezra die ganze Zeit auf dem Arm und gab die ganze Zeit ungefragt Erziehungstipps und beklagte mehrere Dinge, die ich ihrer Meinung nach falsch machte. Dabei sprach sie so laut, dass Ezra keine Chance hatte, wieder einzuschlafen. „Gut, dann gehen wir Essen und nehmen Ezra mit, der kann uns Gesellschaft leisten", sagte Kathleen und legte ihn in den Kinderwagen. Nein! Gegen Kathleens dominantes Auftreten war ich vollkommen machtlos. Wenn ich mir jetzt einen Fehler leistete, würde ich Ezra für immer verlieren, dessen war ich mir sicher. „Ich muss hier noch kurz was erledigen, dann komm ich nach", sagte ich und fühlte mich erleichtert, als die Haustür hinter den anderen zufiel, da sie mich in Ruhe ließen. Nur Brock war auf dem Sofa sitzen geblieben und wartete auf mich. Er schaute sich die Fotos an, die auf den Gemüsekisten standen, während ich ein Glas Wasser aus der Küche holte, um meine Beruhigungstablette einzunehmen. „Mir gefallen die Fotos", sagte Brock. „Mir auch", rief ich ihm aus der Küche zu. Wir gingen beide in den Flur, wo meine Tabletten auf dem kleinen Tisch standen. Ich nahm eine weitere Tablette aus der Verpackung und steckte sie mir in die Hosentasche. Nach der ganzen Aufregung war ich mir sicher, die zweite Tablette heute noch zu brauchen. Nachdem wir das Haus verlassen hatten, schloss ich die Tür ab und setzte mich auf die Stufen, die von der Haustür zum Gartenweg hinabführten. Bevor ich in irgendeiner Form weitermachen konnte, brauchte ich unbedingt eine Pause. Auf das Essen mit der Familie war ich mental einfach nicht vorbereitet. Mit geschlossenen Augen atmete ich tief ein und aus. Erst als ich die Augen wieder öffnete, bemerkte ich, dass es wieder angefangen hatte zu schneien. Den Kopf in den Nacken gelegt, betrachtete ich die Schneeflocken, die leise auf mich herabfielen. „Du kannst schon mal vorgehen", sagte ich zu Brock, der schon an der Straße stand und mich verwirrt ansah. Er schüttelte den Kopf, kam zurück und setzte sich neben mich. „Können wir reden?", fragte er. Ich spürte, wie meine Handflächen anfingen, feucht zu werden und versteckte sie zwischen meinen Beinen. Hatte er herausgefunden was zwischen Nate und mir passiert war? Wie konnte das sein? Mein Herz schlug so heftig, dass es mir die Kehle zuschnürte und ich nur nicken konnte. Furcht breitete sich in mir aus. Furcht vor der Auseinandersetzung, die mir nun vielleicht bevorstand. „Du hast dich verändert, du bist ruhiger als früher", sagte Brock und blickte auf Coleens Haus. „Du auch." Ich zog meine Hände wieder hervor und bewegte nervös die Finger. „Unsere Kindheit ist vorbei", sagte ich und schluckte. Beide mussten wir viel zu schnell erwachsen werden und damit kam ich irgendwie nicht klar. „Willst du mir erzählen, was passiert ist?" fragte er. Wo sollte ich anfangen? Wie ich herausgefunden hatte, dass ich schwanger war? Wie genervt ich von Brock war, nachdem Sophie gestorben war, wie alleine ich mich damals gefühlt habe? Wie mich seine Familie behandelt hatte? Was mit Nate passiert war? „Ich war einsam und dumm. Neun Monate haben wir uns nicht gesehen und jetzt werde ich Ezra verlieren." Als ich den letzten Satz aussprach, brach meine Stimme. „Wieso denn das?", fragte Brock überrascht und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Weil ich eine Riesendummheit gemacht habe, bin ich nicht vertrauenswürdig und deine Mom wird das Sorgerecht bekommen." Brock atmete tief ein und starrte auf seine Schuhe. „Ich habe deine Sprachnachrrichten alle im Lazarett abgehört und als wir nach Hause geschickt wurden, habe ich den ersten Flieger hierher genommen. Willst du mir sagen, was du angestellt hast?" Abwechselnd ballte ich die Hand zur Faust und streckte sie dann wieder aus. Wie konnte ich ihm am besten beibringen, was passiert war? „Sagen wir es mal so, ich bin in drei Häuser eingestiegen und war an einer schweren Körperverletzung beteiligt, aus der beinahe ein Mord geworden wäre." Brock weitete die Augen und sein Kiefer klappte herunter. „Was?" Meine Augen waren nach vorne gerichtet und ich sah, wie das Beet in Coleens Garten gegenüber mehr und mehr von einer weißen Schicht bedeckt wurde. Brock legte seinen Arm um meine Schulter und ich lehnte mich an ihn. „Ich weiß, dass du meine Mom nicht magst, aber sie ist kein schlechter Mensch." Das konnte ich nicht wirklich glauben. Ich wollte jedoch keinen Streit mit Brock anfangen, deshalb nickte ich nur. „Jetzt kann ich sowieso nichts mehr ändern." Auch dieses Mal entgegnete Brock nichts. Verstohlen versuchte ich, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Er sah in die Ferne und schien wieder in seiner eigenen Gedankenwelt versunken zu sein. „Willst du mir erzählen, was bei dir passiert ist?", fragte ich und schreckte Brock durch meine Stimme aus seinen Gedanken. Er schüttelte den Kopf, was mich maßlos enttäuschte. „Es ist nichts Spannendes drüben passiert", sagte er und stand auf. Ich griff nach seiner Hand und zog ihn wieder zurück. „Irgendetwas muss ja passiert sein, sonst wärst du dort nicht im Krankenhaus gewesen." Langsam wurde ich wütend. Von mir wollte er alles ganz genau wissen, aber selber wollte er nichts erzählen. „Meine Stoßtruppe hatte einen Spezialauftrag, dabei sind wir in einen Hinterhalt geraten und einer der Angreifer wollte auf mich schießen, Mike...Mike..." Brock konnte sich nur mit Mühe beherrschen und er schluckte schwer. „Mike hat das noch gerade rechtzeitig gesehen und den Gegner ausgeschaltet, bevor der auf mich schießen konnte." Wie er so dasaß und erzählte, wirkte er verletzlich und irgendwie mitgenommen. Er musste schreckliche Dinge gesehen haben. Tröstend legte ich meine Arme um ihn und zog ihn ganz nah an mich heran. Eng umschlungen saßen wir da und beobachteten die Schneeflocken, die mittlerweile weniger stark fielen. „Ich habe noch was für dich", sagte Brock nach einer Weile. Er griff in die Tasche seiner Uniform und zog einen kleinen Gegenstand hervor. Als ich erkannte, was es war, hielt ich die Luft an. Es war ein silberfarbener, leicht verschmutzter Ring, an dessen Seite rote Punkte eingraviert waren. In der Mitte befand sich ein großer, roter Edelstein mit silberfarbener Einfassung. „Ich habe ihn von einem afghanischen Händler gekauft. Du hast auf mich gewartet. Obwohl es einige Probleme gab, sind wir zusammengeblieben und waren beide stark genug, die Entfernung zwischen uns zu akzeptieren. Für mich bist du ein Mädchen... eine Frau, die es wert ist." Ich schluckte und spürte, wie Tränen in meinen Augen aufstiegen. Wie lange konnte ich die Sache mit Nate noch verbergen? Brock war der tollste Junge, den ich kannte und er war so mitfühlend. Er hatte es nicht verdient, hintergangen zu werden. Mein schlechtes Gewissen belastete mich maßlos. „Betrachte den Ring als Erinnerung daran, dass ich dich liebe." Er gab mir den Ring und ich steckte ihn an meinen Finger. Das kühle Metall schien auf meiner Haut zu brennen. Es fühlte sich so falsch an. „Danke", war das einzige, was ich sagen konnte. Ich hatte das einfach nicht verdient. Brock stand auf und reichte mir die Hand als Zeichen, dass wir zum Abendessen aufbrechen sollten. Ich ergriff seine Hand und zog mich daran hoch. Mir war völlig schleierhaft, wie lange ich die Sache mit Nate noch vor Brock verbergen konnte.
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„Vielen Dank nochmal, das Essen war sehr lecker." Wir standen alle an der Eingangstür von Coleens Haus und Brocks Familie bedankte sich für das Essen. Danach wollten sie ein anderes Ferienhaus von Coleen beziehen, welches sich nur eine Straße entfernt befand. Ein Freund von Coleen hatte bereits das Gepäck zu jenem Haus gebracht und Brock und seine Familie würden dort übernachten. Wie lange sie bleiben wollten, wusste ich nicht. Janice öffnete die Tür und trat auf die Straße. „S Dann ziehen wir uns mal zurück, bis morgen", sagte Kathleen und sah dabei in den Kinderwagen, den ich fest umklammert hielt. Ich ließ ihn nicht los, bis ich das Gefühl hatte, dass Ezra vor Kathleen sicher wäre. „Mom, wieso kann ich nicht bei Amber schlafen? Jetzt wo ich wieder da bin, kann ich doch bei meinem Sohn sein und mich um ihn kümmern", sagte Brock, als wir gerade die Straße überqueren wollten. Verstohlen blickte ich zu Kathleen herüber, um ihre Reaktion zu sehen. Kathleen schüttelte den Kopf, ihre Miene war ausdruckslos. „Ich möchte nicht, dass du ein zweites Baby an dir hängen hast", erwiderte sie. Wie bitte? Entrüstet schnappte ich nach Luft. Am liebsten hätte ich Kathleen eine Gemeinheit ins Gesicht gesagt, aber weil Brock ihr schnell antwortete, blieb ich still. „Ich werde auf dem Sofa schlafen", sagte er. Kathleen erwiderte nichts, was wir als Zustimmung interpretierten. Wieso musste Brock überhaupt das Einverständnis seiner Mutter einholen? Er war doch mit seinen 19 Jahren bereits volljährig. Sogar mein Vater war damit einverstanden, dass Brock bei mir schlief. Janice und Christopher wünschten uns eine gute Nacht, während Kathleen still blieb. Danach überquerten wir die Straße. „Ich werde auf dem Sofa schlafen", sagte ich zu Brock, als ich die Haustür aufschloss. „Nein, ich schlafe auf dem Sofa, schließlich ist es dein Bett." Brock hob den Kinderwagen ins Haus. Ich schüttelte den Kopf, als ich Ezra aus dem Wagen hob. „Du hattest anstrengende Monate hinter dir, ich möchte dass du in einem richtigen Bett schläfst. Morgen kann ich ja noch eine Matratze besorgen", sagte ich und sah ihn mit bittendem Gesichtsausdruck an. Ich war müde, heute war ein anstrengender Tag und ich hatte keine Lust zu diskutieren. Schließlich gab Brock nach. In der Küche bereitete ich das Fläschchen vor. Während die Milch abkühlte, ging ich mit Ezra in mein Zimmer und zog mir dunkelrote, kurze Shorts und ein graues Top an. Von unten hörte ich Stimmen, wahrscheinlich hatte Brocks Dad ihm seinen Koffer vorbeigebracht. Behutsam legte ich Ezra auf die Wickelkommode. Bevor ich anfing seine Windeln zu wechseln, nahm ich meine Haare, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hatten und band sie zu einem losen Dutt zusammen. Ich war so müde, dass ich kaum noch die Augen offen halten konnte. Nachdem ich Ezra eine saubere Windel angezogen und ihn in sein Bett gelegt hatte, saßen Brock und ich auf dem Sofa und tranken Tee. Der Fernseher lief, aber ich war nicht mehr in der Lage, das Geschehen auf dem Bildschirm zu verfolgen. Mit hochgezogenen Knien lehnte ich mich an Brocks Schulter. In meiner Hand hielt ich einen Becher Tee und nahm hin und wieder einen Schluck daraus. „Was ist das?" Brock griff nach meinem Handgelenk und drehte es auf die Innenseite. Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete er mein Tattoo und strich anschließend mit seinen Fingern darüber. „Ezra. Woher hast du denn dieses Tattoo?" Er wollte wirklich alles wissen. „Illegal", das war das einzige, was mir in dem Augenblick dazu einfiel. „Du liebst ihn, oder?" Wen, Nate? Schlagartig wurde ich wach. Der Tee in meinem Becher schwappte leicht über. Erschrocken sah ich Brock an. „Ezra, meine ich." Sofort verlangsamte sich mein Puls wieder und ich nahm noch schnell einen Schluck Tee, um meine kratzige Kehle zu befeuchten. „Ja", gab ich zurück. Vor meinem inneren Auge sah ich mich selbst nach Ezras Geburt heulend im Krankenhaus. „Als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, direkt nach der Geburt, hat sich alles für mich verändert. Es ist schwer zu beschreiben, aber ich konnte ihn nicht weggeben. : Früher hätte ich es nie für möglich gehalten, dass ich so ein kleines Baby derartig lieben würde. Wenn du jemanden liebst, willst du nur das Beste für ihn und ich dachte, bei mir ginge es ihm am besten. Ich kann mir ein Leben ohne Ezra gar nicht mehr vorstellen. Und er ist auf gar keinen Fall ein Fehler in meinem Leben", fügte ich hinzu und schloss wieder die Augen. Die Wärme des Tees breitete sich in meinem Magen aus und schloss sich um mein Herz. Meine Gefühle, die ich Brock offenbart hatte, wurden jeden Tag stärker. Ich liebte meinen Sohn über alles. „Hättest du jemals gedacht, dass unser Leben einmal so aussehen würde?", fragte Brock. Ich öffnete die Augen einen Spalt breit und sah ihn an. Wie sieht denn unser Leben aus? Bisher hatte er doch gar nicht richtig daran teilgehabt. Ich schüttelte nur den Kopf und schloss wieder die Augen. „Ich denke, wir sollten schlafen gehen", murmelte ich vor mich hin. Ich war unendlich müde. Schließlich stand ich vom Sofa auf und brachte den leeren Teebecher in die Küche. Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, hatte Brock mein Kissen und meine Decke auf das Sofa gelegt. „Gute Nacht", sagte er und drückte mir einen Kuss auf den Mund, als ich mich wieder auf das Sofa setzte. Ich beobachtete, wie Brock aus dem Wohnzimmer trat. „Brock?" Er drehte sich um und sah mich mit besorgtem Blick an. „Ja?" Mit einem schiefen Lächeln stand ich auf. „Du bist wieder da!" Mit zwei schnellen Schritten war ich bei ihm und umarmte ihn. Dabei vergrub ich meinen Kopf an seinem Hals und ließ mich von seinem Duft einhüllen. Dann ließ ich mich wieder auf mein Sofa fallen und schlief sofort ein. Es dauerte jedoch nicht lange, da wurde ich durch das Geräusch von Ezras leisem Quengeln, das aus dem Babyphone erklang, wieder wach. Seit Ezras Geburt hatte ich nur einen leichten Schlaf, aus dem ich beim kleinsten Geräusch hochschreckte. Ich rieb mir die Augen, um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Mühsam wälzte ich meinen Körper vom Sofa hoch und schleppte mich die Treppe herauf. Vor der Tür des Schlafzimmers schaltete ich das Licht im Flur an, drückte vorsichtig die Türklinke herunter und trat ein. Das Zimmer war dunkel, dennoch konnte ich die Umrisse von Brocks Körper sehen, der auf der Bettkante saß und sich mit der Hand durch die Haare fuhr. Ich hob den inzwischen lauter quengelnden Ezra aus seinem Babybett und wollte gerade mit ihm das Zimmer verlassen, als ich Brocks starke Hand auf meiner Schulter spürte. „Ich mach das schon", flüsterte er. „Musst du nicht", erwiderte ich kopfschüttelnd. „Ich weiß, was ich machen muss, leg du dich wieder hin", sagte er, nachdem wir die Treppe heruntergegangen waren. „Danke", flüsterte ich und legte mich wieder aufs Sofa. Es dauerte nicht lange, da war ich wieder eingeschlafen.
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Neun Monate ohne dich
Teen FictionEr kämpft für sie- Sie kämpft mit sich Amber Shivers lebt das normale Leben einer 16 Jährigen. Bis der Junge, den sie liebt, als Soldat nach Afghanistan in den Krieg zieht und ihr ein riesiges Abschiedsgeschenk hinterlässt. Ein Baby. Brock kann nich...