Kapitel 11

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Ein lautes Klingeln ließ mich aus dem Bett hochfahren. Es war mein Handy. Noch verschlafen griff ich danach. Es war Wesley. „Hallo?", nuschelte ich müde. „Hey, ich bin jetzt am Flughafen, wie heißt das Krankenhaus nochmal?" Als hätte ich plötzlich einen Schlag bekommen, tauchten alle Geschehnisse wieder in meinem Gedächtnis auf. Sophie lag im Krankenhaus. „Unity Point Health Methodist, es ist etwas verwirrend, weil da drei verschiedene Krankenhäuser in der Nähe sind", fügte ich hinzu. „Warte in Sophies Zimmer auf mich, ich komme auch gleich dorthin", sagte ich und quälte mich aus dem Bett. Ich griff nach Hose und T-Shirt und schleppte mich ins Badezimmer, wo ich eine unerwartete Entdeckung machte. Mich schaute ein blasses Mädchen mit ein paar Narben im Gesicht und mit einem runden Bauch an. Jetzt sah ich definitiv schwanger aus. Dabei war ich erst im vierten Monat. Ich versuchte, meinem Spiegelbild zu entkommen, doch das gelang mir nur schwer. Als ich es geschafft hatte mich anzuziehen, griff ich mir das noch halbvolle Glas Nutella, das wir noch im Kühlschrank stehen hatten und einen Löffel. Ich schrieb meinen Eltern auf einem Zettel eine Nachricht, dass ich im Krankenhaus bei Sophie wäre und ging dann zu meinem Wagen. Als ich die Hände auf das Lenkrad legte, spürte ich nichts. Ich hatte keine Angst vor dem Fahren. Mir würde nichts passieren. Schon nach zehn Minuten war ich am Krankenhaus und obwohl ich nur einmal den Weg gegangen war, fand ich ohne Probleme Sophies Zimmer. Vor der verschlossenen Tür stand ihr Dad an die Wand gelehnt und ich wusste, was das bedeutete. Wesley war schon drin. Am Blick von Sophies Dad konnte ich erkennen, dass sich nichts verbessert hatte. Ich wollte gerade die Türklinke runterdrücken, als er mich am Ellenbogen berührte und mich leicht zurückzog. „Sie kann jeden Moment Hirntod werden. Wir können ihre Organe Spenden", krächzte er. Das Aussprechen dieses Satzes musste ihn unendlich viel Überwindung gekostet haben. Ich schluckte. Nein, er durfte nicht jetzt schon daran denken. Sophie konnte doch noch aufwachen, also schüttelte ich den Kopf und öffnete die Tür. Mir rutschte das Herz in die Hose, als ich die Situation vor mir sah. Sophie lag noch genauso wie gestern im Bett und vor ihr saß Wesley wie ein kleines Häufchen Elend. Er hatte seinen Kopf aufs Bett gelegt und seine Hände umklammerten die von Sophie. Obwohl sich die beiden erst seit einer Woche kannten, sah es so aus, als gehörten sie schon sehr lange zusammen. Was sollte ich machen? Ich setzte mich neben Wesley und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er schreckte ein wenig hoch, aber als er mich sah, legte er seinen Kopf wieder zurück aufs Bett. Er hatte geweint. Aber ich selbst weinte nicht. Wieso? Ich war traurig, aber nicht am Boden zerstört. Wieso? Was stimmte nicht mit mir? Hieß das, ich mochte Sophie nicht wie ich es immer gedacht habe? Eine Flut schlechten Gewissens breitete sich in mir aus. Das drohte, mich zu erdrücken. Ich stand auf und verließ schnell den Raum. „sie wird gleich untersucht", sagte Keith. Er stand immer noch wie vorhin an der Wand gelehnt. Ich wusste, was er damit sagen wollte. Sophies Diagnose würde immer noch dieselbe sein. „Ich komme morgen nochmal", hörte ich eine heisere Stimme hinter mir sagen. Wesley war aus dem Zimmer gekommen. Er trug einen schwarzen Rucksack auf dem Rücken. Bestimmt brauchte er jetzt Unterstützung. „Warte, ich komme mit", sagte ich und drehte mich wieder zu Keith. „Es gibt immer noch Hoffnung", sagte ich und eilte Wesley hinterher, der Richtung Ausgang ging. „Ich kann dich zu deinem Hotel bringen, wenn du willst", sagte ich, als ich ihn eingeholt hatte. Wesley sagte nichts und nickte nur. Auch während der Autofahrt herrschte trauriges Schweigen. „Ich hätte wissen müssen, dass sowas passiert", sagte er plötzlich in die Stille hinein. Ich erschrak und sah ihn kurz von der Seite an. Wesley starrte mit einem seltsamen Blick aus dem Fenster. „Wie meinst du das?", fragte ich, als ich meinen Blick wieder auf die Straße lenkte. „Meine Eltern starben, als ich neun war. Sie ertranken in den Ferien in der Karibik. Dann wurde ich von meinen beiden Schwestern großgezogen. Die eine Schwester, Heather, bekam Krebs als ich 13 war und starb. Mit 14 bekam ich einen Hund, der kurze Zeit später überfahren wurde. Meine andere Schwester, Molly, ist kurz nach meinem 18. Geburtstag nach Spanien gezogen und hat mich in Miami alleine zurückgelassen. Dann habe ich Sophie kennengelernt. Sie war das erste Mädchen, dass mir wirklich etwas bedeutet hatte und ich habe mich sofort in sie verliebt. Nur eine Woche. Es hat nur eine Woche gedauert und jetzt ist sie im Koma. Ich bringe anderen nur Unglück. Alle Menschen, die ich liebte, sind fort. Warum nimmt das Unglück mich denn nicht mit?" Ich schluckte, ein Kloß steckte in meinem Hals fest und ich bekam eine Gänsehaut. Ich konnte Wesley verstehen und fühlte mit ihm. Was er gerade durchmachte, konnte ich mir vorstellen. „Ich habe Sophie in der fünften Klasse kennengelernt. In der 7. Klasse begann ich, rebellisch zu werden und wandte mich von ihr und von meiner Familie ab. Ich schloss mich der Punk-Clique meiner Schule an, schwänzte ganz oft die Schule und mir wurde alles egal. Ich stand am Anfang der Highschool kurz vor dem Rauswurf, als ich Brock kennenlernte. Er hat mich vor dem Untergang bewahrt und mir auch noch das Basketballspielen beigebracht, das heute viel für mich bedeutet. Und dann musste er unbedingt zur Army gehen und wurde nach Afghanistan geschickt. Kurz vorher wurde ich schwanger. Ich darf jetzt kein Basketball mehr spielen", sagte ich. „Und dann Sophie!" Ich krallte meine Hände ums Lenkrad. „Aber du hast noch Brock", bemerkte Wesley. Ich spürte einen Stich durch mein Herz und schüttelte langsam den Kopf. „Ich glaube, ihn habe ich auch nicht mehr. Er dachte, wir hätten den Autounfall mit Absicht gemacht." Ich schnaubte, als ich an das Telefonat zurückdachte. „War diese Annahme denn berechtigt?", fragte Wesley. „Nein, natürlich nicht. Ich würde mich doch niemals umbringen." „Ehrlich gesagt, als du mit ihm telefoniert hast, klangst du so." Ich wollte gerade etwas erwidern, als ich mich an die Telefonate mit Brock erinnerte. Vielleicht kam ich komisch rüber, weil ich nichts vom Baby wissen wollte. Ich war zu unrecht auf Brock sauer und musste mich bei ihm entschuldigen. Aber was, wenn es zu spät war? Wenn er nichts mehr von mir wissen wollte? Ich spürte, wie mich leichte Panik überkam. Sie drückte auf meinen Brustkorb und ich verzog das Gesicht, um nach Luft zu schnappen. Ich hörte eine dumpfe Stimme meinen Namen rufen und im nächsten Moment wurde die Autotür neben mir aufgerissen. Ich griff mir an die Seiten, weil mich dort ebenfalls ein heftiger Schmerz durchzuckte. Mein Blick verschwamm und im nächsten Moment spürte ich den Autositz nicht mehr unter mir, sondern zwei starke Arme. Ein kühler Luftzug berührte sanft mein Gesicht und im nächsten Moment wurde es wieder warm. Ich spürte ein Beben unter mir und ein dumpfes Stimmengewirr um mich herum, was meine Panik noch verstärkte. Ich hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, bis ich wieder richtig Luft bekam. Langsam beruhigte sich mein Atem wieder. Ich grub meine Finger in etwas weiches unter mir. Es war eine Matratze. Ich saß auf einem Bett. „Geht es los? Kommt das Baby?", hörte ich die weit entfernte Stimme von Wesley. Völlig benebelt schüttelte ich den Kopf und im nächsten Moment spürte ich etwas Kühles an meinen Lippen. Ich öffnete sie ein wenig und eine kalte Flüssigkeit rann meine Kehle hinunter. Langsam klarten sich meine Sinne wieder auf. Ich griff an meinen dröhnenden Kopf. „Geht's wieder? Das war gerade voll komisch, hast du das öfter?" Ich spürte, wie sich jemand neben mich auf die Matratze setzte. „Ich habe an Brock gedacht, und daran, dass er mir vielleicht nicht verzeiht und dann..." „Gott sei Dank waren wir schon auf dem Parkplatz des Hotels, als das passiert ist. Ich dachte schon, du bekommst dein Baby." „Ich bekomme es erst in fünf Monaten. Oh Gott, es ist ein Junge, ich habe überhaupt keine Ahnung von Jungen. Ich weiß nur, dass sie toll sind und gleichzeitig riesige Arschlöcher sein können, nichts gegen dich! Gott sei Dank muss ich mich nicht um ihn kümmern." „Glückwunsch trotzdem." Ich schüttelte den Kopf. Nein. Ich wollte das nicht. Wesley seufzte. Obwohl wir uns erst eine Woche kannten, konnte er schon meine Gedanken deuten. „Skype doch jetzt mit ihm", sagte Wesley und drückte mir einen kleinen weißen Zettel in die Hand. Es war das W-Lan Passwort des Hotels. Was nun folgte, geschah beinahe automatisch, ohne dass ich wirklich realisierte, was ich tat. Erst als das Freizeichen aus meinem Handy ertönte, kam ich wieder richtig zu mir. Was sollte ich sagen? Und das auch noch vor Wesley. Ich schaute nervös zu ihm hinüber, der sich ans Fenster gestellt hatte und auf die Straßen Peorias blickte. „Amber?" Erschrocken drehte ich den Kopf zu meinem Handy. Das Bild war pixelig und die Videoübertragung stockte ab und zu. „Ich wollte mich entschuldigen, wegen meinem bescheuerten Verhalten." „Ja, ich hätte das nicht denken sollen. Das war dumm von mir." Ich spürte, wie alle meine Sorgen und der ganze Stress nur durch den Klang von Brocks Stimme nachließen. „Ich will dir noch jemand vorstellen", sagte ich und winkte Wesley, der erstaunt vom Fenster zu mir herüberblickte. Die dunklen Striche, die die Augenbrauen in Brocks Gesicht andeuteten, zogen sich zusammen. Wesley hatte sich schüchtern neben mich gesetzt und winkte. „Das ist Wesley, der Freund von Sophie." Die letzten drei Wörter sagte ich ein wenig langsamer, damit er nicht was falsches dachte. Auf dem pixeligen Display zeigte sich ein Bogen, der sich nach oben bog. Brock lächelte und runzelte gleichzeitig die Stirn. Er hatte verpasst, wann Sophie ihren ersten Freund kennengelernt hatte. „Hallo, schön dich kennenzulernen." Brocks Stimme senkte sich. „Wie geht's denn Sophie?" Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. Er sollte das lieber nicht ansprechen. Ich traute mich nicht, Wesleys trauriges Gesicht anzusehen. Sophie würde nie wieder aufwachen, aber Wesley schien das nicht begreifen zu wollen. Ich auch nicht. „Willst du darüber reden?", fragte Brock. Ich schüttelte den Kopf. „Kann ich über das Baby reden?", fragte er. Ich nickte. Irgendwann mussten wir es ja tun. Wesley ging wieder zum Fenster. „Es ist ein Junge", sagte Brock und ich hörte etwas Verträumtes in seiner Stimme. „Hamlin!", hörte ich eine tiefe, männliche Stimme in seiner Nähe brüllen. „Ich muss aufhören, ich hab' Dienst. Ich liebe dich", sagte Brock und schon war das Gespräch beendet. Langsam ließ ich das Handy sinken und schaute zu Wesley hinüber. Er starrte aus dem Fenster, seine Augen bewegten sich nicht. „Sie wird nicht mehr aufwachen", sagte er. „Und ich bin nicht traurig. Ich fühle gar nichts." Wesley klang frustriert. „Bei mir ist das genauso", erwiderte ich. Vielleicht war das ein Schutzmechanismus von unseren Körpern. Vielleicht spürten sie, dass wir nicht mehr Schmerz ertragen konnten. Ich verabschiedete mich von Wesley und fuhr nach Hause. Als ich dort ankam, hörte ich von weitem zwei verschiedene Stimmen brüllen und den Hund der Nachbarn bellen. Als ich vor unserer Haustür stand, wurde das Brüllen deutlich lauter. Waren es meine Eltern, die sich da gerade anschrien? Leise drehte ich den Schlüssel im Schloss und schlich mich ins Wohnzimmer. „Ich halt es einfach nicht mehr mit dir aus Michael!", hörte ich meine Mutter schreien. „Du bist so erbärmlich." Ich schlich mich an die Wohnzimmertür und konnte jetzt meine Eltern genau sehen. Mein Vater saß auf dem Sofa und meine Mutter stand mit verschränkten Armen vor ihm. „Ich kann es kaum erwarten, bis du deiner Tochter sagst, dass wir uns getrennt haben." Ich schnappte nach Luft. Getrennt? Das war eigentlich nichts neues für mich. Ich erwartete schon seit mehreren Jahren, dass sich meine Eltern trennten. Erschrocken drehte mein Vater den Kopf zu mir und meine Mutter tat es ihm gleich. Sofort wurden ihre Gesichtszüge weicher. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Insgeheim freute ich mich sogar dafür. Es tat beiden nicht gut, zusammen zu sein.

Neun Monate ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt