Kapitel 10

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Ein Stechen durchfuhr meinen Körper. Panisch schnappte ich nach Luft und riss die Augen auf. Ein Pochen und Drücken zog sich durch meinen Kopf. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, wo ich lag. In einem Bett, in einem Zimmer. Ich war im Krankenhaus. Schon wieder. Was war passiert? Ich versuchte aufzustehen, doch mein Körper schmerzte zu sehr. Ich schloss die Augen und versuchte mich an das zu erinnern, was passiert war. Ich erinnerte mich an ein lautes Krachen und zuckte zusammen. Vor meinen Augen erschien ein Truck. Ich hörte ein Kreischen und kurz darauf verspürte ich einen heftigen Aufprall. Mein Körper zuckte zusammen. Wie, als hätte ein Blitz plötzlich eingeschlagen, tauchten die Erinnerungen auf. Der Road-Trip, New Orleans, der Truck. Sophie! „Wie geht es Ihnen?", hörte ich die Stimme einer Frau an der Tür. „Es tut alles weh", sagte ich schwach und versuchte, wieder hochzukommen, doch es war vergebens. „Bleiben Sie liegen, Sie haben viele Glassplitter abbekommen und Ihre Wunden müssen noch verheilen. Eine Frau in einem weißen Kittel war mit einem Ultraschallgerät, dass sich auf einem Rollwagen befand, an mein Bett herangetreten. Ich spürte, wie sich Übelkeit in mir ausbreitete. „Wo ist Sophie?", fragte ich und schaute die Ärtztin fragend an. Ihr netter Gesichtsausdruck wurde auf einmal ganz mitleidig. „Sie schläft noch." Diese Stimme ließ mich zusammenzucken. Es war die Stimme meiner Mutter. Sie war gerade ins Zimmer gekommen. Ich spürte Angst in mir aufkommen. Hasste sie mich jetzt noch mehr? „Wie geht es dir?", fragte sie und griff nach meiner Hand. Ich spürte, wie ihre Berührung ein beruhigendes Gefühl bei mir auslöste. „Ihr Sohn ist gesund und ihm geht es gut, er hat den Unfall überlebt. Ich sehe jetzt noch einmal nach, ob wirklich alles in Ordnung ist und dann können Sie morgen wieder nach Hause." Ein Sohn? Vor mir tauchte Brocks Gesicht auf. Meine Mundwinkel zuckten und zwei Seiten in mir bekämpften sich gerade gegenseitig. Eine Mischung aus Gleichgültigkeit, Wut und Trauer kämpfte gegen die Freude an, die plötzlich in mir aufkeimte. Meine Mundwinkel konnten sich nicht entscheiden, ob sie sich nach unten oder nach oben bewegen sollten und zuckten nur. Stille Tränen liefen meine Wangen herunter. Ich schluckte schwer. Unter dem Gel auf meinem Bauch bildete sich eine leichte Gänsehaut. Ein Junge. Ängstlich schaute ich in das Gesicht meiner Mutter. Ich konnte ihren Blick nicht richtig deuten, aber was sah ich da in ihren Augen? Etwas blitzte darin auf. Besorgnis? Liebe? „Mom, es tut mir so leid", sagte ich kaum hörbar. Meine Mutter erwiderte nichts, sie drückte sanft meine Hand und sah auf den Bildschirm. „Wir haben dich und deine Freundin aus New Orleans nach Peoria fliegen lassen, nachdem wir das Baby einige Tage beobachtet haben und jetzt kann ich auch nichts außergewöhnliches feststellen. Du kannst also wieder nach Hause. Ich gebe dir eine Salbe mit, die du regelmäßig auf deine Schnittwunden auftragen kannst." Die Ärztin wischte mir das Gel vom Bauch und drückte mir eine Tube in die Hand. Dann war sie mit dem Ultraschallgerät auch schon wieder verschwunden. Meine Mutter half mir vorsichtig auf. Ich spürte jede einzelne Faser meines Körpers brennen und stechen. „Kann Sophie heute auch raus?", fragte ich, während ich mühsam in meine Hose stieg, die auf dem Stuhl am Fenster lag. Meine Mutter sah aus dem Fenster und schien meine Frage gar nicht gehört zu haben. Erst als ich meine Schuhe zuband, antwortete sie mir. „Nein, ihr geht es schlechter als dir." Ich spürte, wie mir das Herz in die Hose rutschte und mir übel wurde. Panik breitete sich in mir aus. Hier stimmte doch etwas nicht. Ich hakte mich bei meiner Mutter ein und sie führte mich vorsichtig aus dem Zimmer. „Mom, ich möchte zu Sophie", sagte ich und blieb auf dem Flur stehen. Meine Mutter verzerrte ihr Gesicht und seufzte. Sie war still. Es war bestimmt das erste Mal in meinem Leben, dass sie so lange still blieb. Sie ging gezielt weiter. Ich wusste, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war, deswegen hielt ich ebenfalls meinen Mund. Ich wusste nicht, wie lange wir schon so nebeneinander hergegangen waren. Alles worauf ich mich konzentriert hatte, waren die Schmerzen und meine Angst, die mir tief in den Knochen steckte und an mein Fleisch nagte. „Hier", sagte meine Mom leise. Wir standen vor einer geschlossenen Tür. „Sophie hat es härter getroffen als du, sie liegt im Koma." Das fühlte sich an, als ob mir ein riesiger, unsichtbarer Hammer in den Magen schlug. Mit einem Keuchen atmete ich aus. Ich hörte die Stimme meiner Mutter wie aus weiter Ferne und alles um mich herum verschwamm. Ich krallte mich am Arm meiner Mutter fest, schnappte nach Luft, doch ich bekam keine. Mein Kopf begann zu dröhnen und ich spürte, wie meine Mutter an meinen Schultern rüttelte. Ich riss die Augen auf. Endlich füllten sich meine Lungen mit Luft und ich konnte wieder klar sehen. Erst jetzt, wurde mir die Bedeutung der Worte richtig klar. Sophie lag im Koma. Sophie lag im Koma. Sophie lag im Koma. Ich fasste an meine Wangen. Sie waren nass. Meine Mutter betätigte die Türklinke und die Tür schwang langsam auf. Es war ein kleiner Raum, mit nur zwei Hockern und einem Krankenbett mitten darin. In dem Bett lag Sophie. Sie war an einem EKG und EEG angeschlossen, aus ihrem Mund hingen Schläuche und sie hatte Schürfwunden im Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen. Sie sah aus, als würde sie friedlich schlafen und jeden Moment aufwachen. Doch das tat sie nicht. Sophie lag im Koma. Auf dem einen Hocker saß Keith. Er hatte sich auf das Bett gelehnt und hielt ihre Hand. Ich spürte, wie mir die Tränen über die Wangen liefen und presste die Hand gegen den Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken. Keith hatte uns nicht bemerkt. Ich setzte mich auf den Hocker neben ihm. „Du hast keine Schuld", sagte er leise. Ich antwortete nicht und griff mir an den Hals. Die Kette war noch da. Ich spürte die Wärme, die von der Kette ausging und sah in das friedliche Gesicht meiner besten Freundin. „Wie sieht's aus?", fragte ich heiser, doch ich bekam keine Antwort und überflüssig wusste, was das Bedeutete. Es sah schlecht aus. Ich knetete meine Hände, um mich vom Weinen abzulenken. „Sie hat schwere Hirnblutungen", flüsterte Keith und drückte Sophies Hand. Ein bitterer Geschmack bildete sich in meinem Mund. Ich versuchte, meinen immer unruhiger werdenden Atem zu kontrollieren. „Sie ist im Koma." Unfähig, irgend etwas zu empfinden, starrte ich nur auf Sophies schlafendes Gesicht. In mir herrschte völlige Leere. Koma. „Amber, wir müssen nach Hause. Dein Vater ist gerade zurückgekommen und du musst dich ausruhen." In meinem Kopf schwirrte alles durcheinander. Wie aus weiter Ferne hörte ich die Stimme meiner Mutter. Ich starrte meine beste Freundin an, wie sie so reglos dalag. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ ich den Raum. „Ich bringe dich zum Auto. Warte dort auf mich, ich muss noch deine Entlassungspapiere unterschreiben", sagte meine Mutter und griff mir unter die Arme. Ich spürte immer noch nichts. Alles rauschte an mir vorbei. Erst, als ich den weichen Autositz unter mir fühlte, schnappte ich nach Luft, weil mich die plötzlich aufkommenden Gefühle überwältigten. Ich versuchte, aus dem Fenster zu sehen, doch ich konnte nur verschwommene Silhouetten wie durch einen Schleier wahrnehmen. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. Etwas an meinem Bein vibrierte. Mein Handy. Mit schmerzenden Armen versuchte ich mein Handy aus der Hosentasche zu ziehen. Ich konnte nur verschwommen den Namen des Anrufers lesen. Es war Brock. Ich wollte jetzt nicht mit ihm reden. Ich wollte mit niemanden reden. Aber ich musste. „Hallo?", krächzte ich, nachdem ich den gründen Button für die Rufannahme betätigt hatte. „Oh mein Gott, Amber, endlich! Wie geht es dir? Meine Mom meinte, du hattest einen Autounfall und bist im Krankenhaus. Und was ist mit dem Baby?", ertönte sofort die besorgte Stimme von Brock. „Dem Baby geht's super." Meine gereizte Stimme war heiser. „Und ich bin gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden, alles tut mir weh." Ich hörte, wie er erleichtert ausatmete und versuchte, ein Schniefen zu unterdrücken. Ein paar Sekunden war es still zwischen uns. Dann redete Brock weiter. „Du, Amber, sag mal, habt ihr das mit Absicht gemacht, ich meine, du wolltest das Baby doch nicht behalten und hast im Moment viele Probleme deswegen und..." Ich spürte, wie meine Schmerzen für einen Moment von starker Wut verdrängt wurden. „Brock, sag mal spinnst du? Denkst du jetzt ernsthaft, ich wollte mich umbringen und dabei das Leben meiner besten Freundin aufs Spiel setzten? Was ist bloß los mit dir? Sophie liegt im Koma, Brock. Denkst du, das war Absicht? NEIN!" Meine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. „Was? Was ist mit Sophie? Ich wusste nicht, dass..." Brocks Stimme verstärkte meine Kopfschmerzen und am liebsten hätte ich das Handy aus dem Fenster geworfen, um mir nicht sein Gelaber anhören zu müssen. „Du weißt vieles nicht. Übrigens, Glückwunsch, es ist ein Junge", zischte ich und legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Ich konnte Brocks Stimme nicht mehr hören. Ich wollte gar nichts mehr hören. Ich schloss meine Augen, lehnte den Kopf zurück und atmete tief ein und aus. Das konnte doch alles nicht wahr sein!
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Vergeblich hatte ich versucht zu schlafen. Mein Atem ging unruhig und viele Dinge schwirrten mir im Kopf herum. Ein Klopfen und gleichzeitiges Vibrieren ließen mich vor Schreck aus dem Bett hochfahren. Die Zimmertür wurde erst einen Spalt breit und dann ganz geöffnet, während mein Handy, das auf dem Nachttisch lag, ließ Brocks Namen auf dem aufleuchten. Mein Vater kam herein und ich drückte bereits den fünften Anruf von Brock weg. Dad setzte sich auf die Bettkante und schaute mich mitleidig an. „Wie geht's dir, meine Große?", fragte er. Ich ließ mich wieder zurück ins Bett fallen und presste die Hand gegen meinen plötzlich pochenden Schädel. Mein Dad brauchte nicht auf eine Antwort zu warten, denn er wusste, wie es mir ging. „Ich soll dir von deiner Mom sagen, dass Kathleen sie angerufen hat. Brock versucht dich schon die ganze Zeit zu erreichen, aber schafft es nicht." „Pfff", machte ich und verdrehte die Augen. „Ich muss doch nicht ständig mit ihm reden", sagte ich. „Er macht sich doch nur sorgen um dich und um euer Kind." „Wohl eher um das Kind", sagte ich. „Du kannst es ihm nicht verübeln, so wie du ihn behandelst, ist es ein Wunder, dass er überhaupt noch bei dir bleiben möchte." Meine Mutter war ins Zimmer gekommen und warf meine frisch gewaschene Wäsche auf mein Bett, Im nächsten Moment war sie wieder verschwunden. „Ach, hör nicht auf sie", sagte Dad. „Aber sie hat doch recht", sagte ich und setzte mich auf, was den Druck in meinem Kopf noch verstärkte. „Sobald ich das Baby seiner Familie übergeben habe, trennt er sich von mir. Und dann habe ich niemanden mehr", sagte ich und legte mich wieder zurück. „Das stimmt doch gar nicht, du hast noch deine Familie." Nein, das war nicht dasselbe. Nach ein paar Minuten stand mein Vater auf und verließ das Zimmer. Nach dem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, vibrierte mein Handy wieder. Ich seufzte. Brock konnte echt hartnäckig sein. Ich griff nach meinem Handy und schaute kurz auf das Display. Eine unbekannte Nummer. Wie kreativ, Brock. Genervt nahm ich den Anruf entgegen. „Brock, ich habe jetzt wirklich keine Lust drauf, mit dir zu reden!" „Brock? Nein, hier ist Wesley." Wesley? „Ich habe deine Nummer am Tag der Abreise von Sophie bekommen. Sie hat mich nicht zurückgerufen, ich habe die ganze Zeit versucht, sie zu erreichen." Ich sog scharf die Luft ein und ein Stich durchfuhr mein Herz. Wesley wusste noch nicht, was passiert war. Ich spürte, wie sich meine Augen wieder mit Tränen füllten. Die ganze Zeit hatte ich versucht, das Bild aus meinem Kopf zu verdrängen, doch es war zu spät. Ich sah sie wieder vor mir, scheinbar friedlich schlafend, mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht. „Wir hatten auf dem Weg nach New Orleans einen Autounfall. Sophie liegt im Koma." Ein lautes Poltern ertönte an meinem Ohr. Wesley hatte sein Handy fallen lassen. „Ich komme nach Peoria", sagte er wenig später und ich spürte wie er versuchte, seine Tränen zu unterdrücken. Im nächsten Moment hatte er aufgelegt. Ich legte mein Handy zurück auf den Nachttisch und stützte mich auf meine Ellenbogen. Ich legte den Kopf nach hinten und versuchte, meinen schneller werdenden Atem zu beruhigen. Es gab noch Hoffnung. Hoffnung, dass Sophie wieder aufwachen würde. In dem Moment, als sich diese Hoffnung in mir ausbreitete, spürte ich so etwas wie ein Flattern in meinem Bauch. Ich legte mich wieder zurück ins Bett und schloss die Augen. Ich nahm an, das Flattern in meinem Bauch wäre die Hoffnung und die Gewissheit, dass meine beste Freundin überleben würde. Ich ahnte zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass es das Baby war, das sich zum ersten Mal bewegt hatte.

Neun Monate ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt