Kapitel 16

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Mein erschöpftes Gesicht blickte mich aus dem Spiegel vor mir an. Ich hatte immer noch ziemliche Augenringe und mein Gesicht war ungewöhnlich fettig und pickelig. Ich sah furchtbar aus. Ganz zu schweigen von meiner Figur. Mein Bauch war immer noch dick und meine Hüften waren ziemlich breit. Was war, wenn ich mein restliches Leben lang so aussehen würde? Ich hatte mir extra den großen Baby-On-Board-Pullover angezogen, um das alles zu verdecken, aber irgendwie brachte das nichts. Mein Handy hatte ich auf den Rand des Waschbeckens gelegt. Es war fünf Uhr morgens. In Peoria wäre es jetzt, elf Uhr nachts. Ich kämmte mir einmal durch die Haare und band dann die Haare zu einem Pferdeschwanz. Nachdem ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen hatte, verließ ich das Badezimmer. Ezra hatte ich sein Fläschchen gegeben, als er mich durch sein Weinen aufgeweckt hatte. Danach hatte ich ihn in den Kinderwagen gelegt. Ich hatte keinen Hunger und auch keine Lust, fernzusehen, also wollte ich spazieren gehen, um Redford Woods zu erkunden. Danach wollte ich direkt zu Coleen gehen und ihr mit den Tieren helfen. Ezra hatte einen weißen Jumper und eine dicke, dunkelblaue Jacke an. Außerdem lag noch eine weiße Decke über ihm. Ich zog mir meine Jacke an und verließ das Haus. Es war noch dunkel draußen und die kalte Luft schlug mir ins Gesicht. Ich nahm den starken riechenden Landgeruch war. Es roch nach Mist. So gut es ging, versuchte ich mich an den Häusern zu orientieren. Ich ging den Weg entlang, auf dem wir mit dem Auto gekommen waren. Die meiste Zeit, in der ich den Kinderwagen vor mir herschob, war nichts Besonderes zu sehen, als weite, leere Wiesen. Während ich den harten Boden unter meinen Füßen spürte und nichts anderes hörte, als das Surren der Räder des Kinderwagens, fand ich endlich die Zeit zum Nachdenken. Nachdenken über alles. Was hatte ich getan? Ich war mit einem Jungen zusammen, der im Krieg war, ich hatte einen Sohn Richtige Freunde hatte ich nicht außer Wesley, aber der war nicht hier. Ich musste wieder unter Leute, wieder in die Schule, aber traute ich mich das? Ich war dick. Man sah mir sofort an, dass ich schwanger gewesen war und was war mit Ezra? Ich schaute auf mein Handy. Es war halb sechs. Mein Blick blieb an dem Hintergrundbild hängen. Es war ein Bild von Brock. Das Bild war kurz vor seiner Abreise entstanden. Er hatte eine dunkle Jeanshose und ein enges, weißes T-Shirt an. Er war damals schon muskulös, aber jetzt hatte er sich bestimmt noch mehr Muskeln antrainiert. Er stand im Park vor einer Bank und sah lachend in die Kamera. Ich hatte ihm in diesem Moment einen Witz erzählt, daran erinnerte ich mich noch. Aber welchen Witz, das wusste ich nicht mehr. Seine Augen hatten so etwas Verliebtes ausgestrahlt. Wann hatte er mich das letzte Mal so glücklich verliebt angesehen? Auf jeden Fall nicht, als wir das letzte Mal geskypt hatten. Desto länger ich mir das Bild ansah, desto schwerer wurde es mir ums Herz. Ich entsperrte das Handy und änderte den Sperrbildschirm. Anstatt Brock war jetzt Ezra zusehen. Dieses Bild hatte ich einen Tag nach der Geburt gemacht. Er blickte in die Kamera, während er meine Finger festhielt. Inzwischen war ich umgekehrt und ging wieder zurück. Wie sollte es bloß weitergehen? Ich musste unbedingt mit Brock über alles reden. Über seine Mom, Ezra und unsere Beziehung. Ich war mir sicher, dass er beim nächsten Gespräch mit mir Schluss machen würde. Schließlich hasste mich seine Mutter und wenn er erstmal erfuhr, was alles passiert war, hasste er mich wahrscheinlich auch. Wieso sehnte ich also das nächste Gespräch mit ihm so sehr herbei, wenn es vielleicht unser letztes sein würde? Machte es mir nichts aus? Ich seufzte und betrachtete den schlafenden Ezra. Er musste sich über gar nichts Gedanken machen. Wieso musste immer alles so kompliziert sein?
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„Hey Amber, ich wusste nicht, dass du schon so früh wach bist!" Ich wollte gerade in die kleine Einfahrt des Hauses einbiegen, als ich Coleens Stimme hinter mir hörte. Ich drehte mich um. Coleen stand auf der anderen Straßenseite in dem kleinen Weg, der hinter ihr Haus führte. Sie hatte ihre Haare zusammengebunden und eine dunkle Jeanslatzhose an. Darüber trug sie eine dunkelgrüne Regenjacke, außerdem dunkelgrüne Gummistiefel. „Komm doch mal mit", sagte sie und winkte mich zu sich rüber. Ich schob den Kinderwagen aus der Einfahrt und über die Straße zu Coleen. Gerade hatte ich die andere Seite erreicht, da schoss ein großer Bernhardiner kläffend aus dem Gebüsch. „Shhh, Bernard", sagte Coleen und sofort hörte der Hund auf zu bellen. „Tut mir leid, das ist Bernard, der Hofhund. Guten Morgen", sagte sie und betrachtete den schlafenden Ezra. „Das ist ja gut, dass du so früh wach bist, dann kannst du gleich mithelfen. Ich möchte dir aber zuerst jemanden vorstellen." Coleen ging zum Eingang ihres Hauses und schloss die Tür auf. „Maria!", rief sie ins Haus. Ich schob den Kinderwagen bis zur Haustür. Bernard folgte mir und schnüffelte gespannt an mir herum. Es dauerte nicht lange, da trat eine Frau, ungefähr Mitte zwanzig, aus der Haustür. Sie trug ein einfaches, dunkelrotes Leinenkleid mit einer weißen Schürze darüber. Ihre Augen waren braun und sie hatte eine schöne, mediterrane Hautfarbe. Die schwarzen Haare hatte sie zu einem Dutt zusammengeknotet. „Schön dich kennenzulernen", sagte sie mit einem spanischen Akzent. Wie sich später herausstellte, kam sie aus Kolumbien. „Ebenfalls", antwortete ich. „Dios Mio, ist der süß, Miss. Coleen hat mir von ihm erzählt und er ist noch so klein." Ich lächelte. Sie war mir auf Anhieb sympathisch. „Wir gehen dann mal zu den Tieren", sagte Coleen und schloss die Tür, nachdem Maria wieder an die Arbeit gegangen war. Ich folgte Coleen, die den schmalen Schottersteinweg neben ihrem Haus entlang ging, mit dem Kinderwagen. Hinter ihrem Haus befand sich ein großer Garten. In dem Garten stand ein kleines Gartenhäuschen, in dem sich einige Hühner befanden, das hatte ich gestern schon gesehen. Die Hühner liefen auch in einem Teil des Gartens frei herum, der von einem kleinen, stählernen Zaun umrundet wurde. Überall da, wo die Hühner nicht hinkamen, wuchsen wunderschöne Blumen. Der Ganze Garten wurde von einem weißen Zaun begrenzt. An der einen Seite erstreckte sich der Zaun noch weiter, denn hinter dem Garten befand sich eine riesige Wiese, die sich in zwei Richtungen ausdehnte: sowohl nach hinten, als auch zur rechten Seite hin. Alles war an den Rändern eingezäunt. Der vom Tau befeuchtete, saftig grüne Rasen war mit braun-gelbem Laub bedeckt. Ungefähr zwanzig Meter vom Garten entfernt stand ein großer Stall. Er war aus schönem, rotem Backstein gebaut, die Türen waren leuchtend gelb. Neben einer der großen Stalltüren stand ein Carport. An der einen Seite des Stalls befand sich ein kleiner, umzäunter Reitplatz. Der Zaun, der die Wiese vom Weg trennte, hatte eine kleine Pforte, die Coleen öffnete. Ich folgte ihr mit dem Kinderwagen auf die Wiese und lief hinter ihr her. Wir gingen schweigend am Reitplatzt vorbei, auf dem Unmengen von Laub und Pferdeäpfel lagen. Das sah ziemlich ungepflegt aus. „In diesem Stall stehen meine drei Pferde und meine vier Kühe. Ich füttere jeden Morgen die Hühner, das habe ich vorhin schon gemacht, und dann lasse ich die Kühe raus. Den Pferden gebe ich Futter und dann mache ich den Kuhstall sauber und vergesse meistens die Pferde, weil ich mich dann sofort um die Ferienhäuser kümmern muss. Ich dachte du könntest mir bei den Pferden helfen." Wir waren am Stall angekommen und Coleen schob die Stalltür auf. Sofort vernahm ich muhende Geräusche in den Ohren. Ich blieb draußen stehen und beobachtete, wie Coleen eine Hintertür vom Kuhstall öffnete und im nächsten Augenblick vier braune Kühe aus dem Stall ins Freie liefen. Dann gingen wir zur Tür neben dem Carport. Es war ein großer Stall mit acht Pferdeboxen, jeweils vier einander gegenüberliegend und am Ende des Raumes befand sich ein separater, kleiner Raum, in dem Sättel, Halfter, Reithelme und anderes Zubehör hingen. Auf dem Boden standen drei Säcke mit Pferdefutter. Aus den ersten drei Boxen sahen mich drei Pferdeköpfe neugierig an, als ich mit dem Kinderwagen den kleinen Gang entlang fuhr. Das erste Pferd war ganz weiß. Coleen sagte das es Dubstep hieß. Das zweite Pferd war rot-braun und hieß Flash. Das dritte war ganz schwarz, mit ein paar grauen Flecken. Das war schon ein ganz altes Pferd und hieß Flower. Ich frage mich bis heute, ob ich die einzige bin, die solche Namen für Pferde komisch findet. Während ich Coleen half, das Pferdefutter aus den Säcken in die Futtertröge zu streuen, kamen wir ins Gespräch. „Sag mal, ich möchte jetzt nicht irgendwie aufdringlich klingen oder so, aber wann hast du vor, mal wieder mit Vater deines Kindes zu reden? Dein Dad fragt mich das die ganze Zeit." sagte Coleen. Ich zuckte mit den Schultern. Es tat weh, über Brock zu reden. Ich fühlte mich schwer und das wollte ich nicht. „Ich weiß nicht, ob er erreichbar ist. Außerdem war seine Mom so wütend, weil ich Ezra behalten habe, dass sie ihm wahrscheinlich verboten hat, mit mir zu reden." „Dein Dad meinte, er wäre 18 Jahre alt, er ist doch volljährig und kann selbst bestimmen, mit wem er reden möchte." „Er ist 19 und auch wenn er nicht auf seine Mom hört, er ist mitten im Krieg. Er hat bestimmt keine Zeit." „Wieso versuchst du heute nicht mal, ihn anzurufen, oder mit ihm zu skypen?" „Ich werde es versuchen", sagte ich und strich Flash über seine Stirn. Es wurde Zeit, das Thema zu wechseln. „Gibt es hier eine Schule?", fragte ich und tätschelte seinen Hals. Coleen nickte. „Ja, gleich zwei Straßen weiter. Wieso?" „Ich weiß nicht. Dieses ganze zu Hause bleiben ist nicht wirklich gut für mich und ich dachte, ich könnte wieder zur Schule gehen." „Aber was ist mit Ezra? Was machst du mit ihm, während du in der Schule bist?" Ich zuckte mit den Schultern. Wäre meine Mom jetzt da, hätte sie mich ausgelacht. Na, was machst du jetzt? Ich habe dir gesagt, dass du es nicht schaffen wirst, hallte ihre Stimme in meinem Kopf wider. Ich schüttelte den grässlichen Gedanken ab. „Ich könnte eine Tagesmutter engagieren", sagte ich. „Ich denke nicht, dass das deiner Mutter gefallen würde." „Pah", machte ich und schloss den Futtersack. „Sie vertraut mir nicht und meint, es liegt nur daran, dass ich schwanger geworden bin. Das wenige Vertrauen war aber auch schon davor so gewesen. Ich habe meine Lektion gelernt, aber ich kann es nicht mehr rückgängig machen. Ich kann mich nur noch auf die Zukunft konzentrieren. Mom will, dass ich spüre, wie es ist, ein Teenager zu sein und ein Kind großzuziehen und sie denkt, dass ich es nicht schaffen werde. Werde ich auch nicht, aber ich werde meiner Mom nicht recht geben, nie!", sagte ich und schleppte den Sack wieder zurück zum Lagerraum. „Sag doch nicht sowas, ich glaube, dass du es schaffst."

Neun Monate ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt