Kapitel 12

1.8K 57 7
                                    

Ich spürte das Vibrieren des Bodens, immer wenn der Basketball aufprallte. Ich stand auf der Terrasse und warf ein paar Körbe, während ich über meine Kopfhörer MKTO hörte. Schon oft hatte ich mitbekommen, wie meine Eltern sich stritten, aber ich dachte, das wäre normal und hätte nichts zu bedeuten. Wie ging es jetzt weiter? Ich nahm den Ball und warf einen weiteren Korb. „Du warst lange nicht mehr hier draußen um Körbe zu werfen", hörte ich die Stimme meines Vaters von der Terrassentür aus. „Ich hatte auch genügend andere Probleme", antwortete ich und warf noch einen Korb. „Hör zu, ich weiß, dass du wütend auf uns bist." Ich war nicht wütend. Statt dessen fühlte ich gar nichts. „Zwischen deiner Mutter und mir ist nichts mehr. Ich habe mich vor einigen Jahren in eine andere Frau verliebt, die mit deiner Mom gut befreundet war." Ich ließ den Ball vor Schreck beinahe fallen. „Du hast Mom betrogen?" Ich dachte, ich würde jetzt wütend oder enttäuscht sein, aber das war nicht der Fall. Statt dessen fühlte ich überhaupt nichts. „Sie hat es gemerkt und wir kamen schnell zu dem Entschluss, dass wir nicht mehr zusammensein möchten. Wir wollten dich aber nicht damit belasten, vor allem nicht, als du schwanger geworden bist..." „Wie lange seid ihr schon getrennt?", unterbrach ich ihn. „Zwei Wochen", antwortete er. „Deswegen war ich auch in London. Ich habe meine Sachen hingebracht, weil ich da wohnen werde. Meine Freundin lebt in der Nähe von London." Freundin. Ich umklammerte meinen Ball. „Wann wolltet ihr mir das sagen?", fragte ich. Mein Dad zuckte mit den Schultern. Ich schüttelte den Kopf. Das konnte ich immer noch nicht fassen. Die Ereignisse überschlugen sich rasend schnell. „Wann ziehst du nach London?", fragte ich. „Morgen Abend." Ich klemmte mir den Ball unter den Arm und zwängte mich an meinem Vater vorbei ins Haus. Ohne ein weiteres Wort zu sagen ging ich in mein Zimmer und ließ mich auf mein Bett fallen. Was war mit mir los? Ich war nicht wütend, traurig oder enttäuscht. Ich war komplett gefühlstaub. Ich schloss die Augen. Schlimmer konnte es nicht kommen, oder?
                                          ★
Ein lautes Vibrieren riss mich aus dem Schlaf. Noch mit geschlossenen Augen tastete ich den Nachtisch nach meinem Handy ab. Als ich es zu fassen bekam, schaffte ich es, auf den Rufannahme-Button zu drücken. „Hallo?", fragte ich verschlafen. „Hier ist Keith. Es sind Blutgefäße in Sophies Gehirn geplatzt. Sie hat extreme Hirnblutungen und ist Gehirn Tod. Heute werden die Geräte von Sophie abgestellt." Ich rieb mir die Augen und setzte mich auf. „Wie bitte?" Hatte ich mich verhört? „Sophies Geräte werden heute abgestellt. Um 13 Uhr. Sie wird nicht mehr aufwachen und es ist ihr Wille." Keith klang müde und schwach. Ein eisiger Schrecken fuhr durch meinen Körper. „Ihr Wille? Woher willst du wissen, dass das ihr Wille ist?", rief ich laut und schwang mich aus dem Bett. Sophie hatte nie so etwas erwähnt, wieso auch. „Sie hat ein Testament geschrieben. Ich habe es gestern gefunden." Ich lief aus dem Zimmer. Die Schlafzimmertür meiner Eltern direkt gegenüber stand offen. Meine Mutter machte gerade das Bett, während mein Vater noch einige Sachen in einen Koffer packte. „Es lag in ihrer Kommode unter ihren Pullovern." Keith sprach leise und mit heiserer Stimme. Konnte man von lautlosem Weinen heiser werden? Wenn ja, dann war das bei ihm der Fall. „Ich muss es tun, es ist ihr Wille." Mein Magen fühlte sich an, als ob sich ein großer Stein darin befände und mein Hals wurde so eng, dass nichts mehr hindurchpasste. Jegliches Blut wich aus meinem Gesicht. Mir wurde schwindelig und ich lehnte mich an meine Zimmertür. „Nein, bitte tu das nicht", wollte ich eigentlich sagen, aber es kam nur ein tonloser Lufthauch aus meiner Kehle. „Amber?" Keiths Stimme brach. Er weinte. Meine Hand zitterte. Ich wollte das nicht. Konnte er nicht warten? Es konnte doch noch ein Wunder geben und Sophie konnte aufwachen. „Nein!", krächzte ich und war selber erstaunt, wie laut ich war. Meine Eltern hielten inne und musterten mich aufmerksam. „Das ist ihr Wunsch. Ich will ihn respektieren und das solltest du auch. Wir sehen uns, okay?" Mit diesen Worten legte er auf. Ich starrte ungläubig auf mein Handy. Keith hatte einfach aufgelegt. Ich spürte, wie mir das Atmen schwererfiel. „Amber, Schatz, ist alles in Ordnung?" Mein Vater stellte sich zu mir und meine Mutter tat es ihm gleich. „Du bist so blass." Ich schüttelte den Kopf und schaute auf die Uhr. 10 Uhr 30. „Keith will bei Sophie die Geräte abstellen. Heute um 13 Uhr", sagte ich in abgehackten Sätzen. Meine Augen brannten. Wieso kamen noch keine Tränen? Mein Dad nahm mich fest in den Arm. Auch meine Mom schloss sich ihm nach kurzem Zögern an. „Ich nehme mir heute frei und komme mit", sagte meine Mutter in meine Haare hinein. Meine Eltern lösten sich wieder von mir. „Mach dich fertig, ich fahre uns", sagte meine Mutter und wischte sich die Tränen aus den Augen. Noch immer war ich unfähig, irgend etwas zu empfinden. Für einen kurzen Moment hatte ich mein Herz gespürt, das verzweifelt dagegen ankämpfte, zum zweiten Mal mitten hindurchgerissen zu werden und Panik, aber jetzt? Nichts. Ich nickte und ging wieder in mein Zimmer. Ich hatte keine Lust auf Farben. Ich zog mir eine schwarze Hose und ein schwarzes T- Shirt an. Als ich meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenband, berührten meine Finger die Kette, die ich um den Hals trug. Ich nahm das Plättchen vorsichtig zwischen meine Finger. Sophie und Amber für immer. Aus dem ‚für immer' war nur ein ‚bis zum 17. Lebensjahr' geworden. Wie würde ich je ohne meine beste Freundin auf dieser Welt klarkommen? Mein Handy vibrierte. Es war eine Nachricht von Wesley, der wissen wollte, ob Keith mich schon informiert hatte. Ich versuchte Brock anzurufen. Seine Stimme konnte mich trösten und für einen Moment seine Nähe ersetzen, da er nicht hier war, um mich in seine Arme zu nehmen, doch er ging nicht ans Telefon. Wo war er, als ich ihn am nötigsten brauchte? Gegen 12 Uhr verließen meine Eltern und ich schweigend das Haus. Während der ganzen Fahrt sagte niemand etwas und das war mir ganz recht so. Während ich aus dem Fenster blickte, versuchte ich etwas zu fühlen, traurig zu sein, aber es funktionierte nicht. Schließlich fuhren wir auf den Parkplatz des Krankenhauses. Ich wusste, wo ich hinmusste und ging direkt dahin, wo Sophie lag und nun sterben sollte. Ich hatte das Gefühl, dass mit jedem Atemzug meine Schritte schneller wurden. Erst vor Sophies Tür hielt ich inne. Wollte ich da rein und zusehen, wie meine beste Freundin ihre letzten Atemzüge tat und ihr Herz aufhörte zu schlagen? Wollte ich als einzige dastehen, die nicht weinte? „Amber", riss mich eine schwache Stimme aus meinen Gedanken. Wesley. Ich drehte mich um. Er stand unmittelbar hinter mir, neben meinen Eltern. Sein Gesicht war rot und seine Wangen nass. Ohne ein weiteres Wort zog ich ihn zu mir und schloss ihn in die Arme. Er vergrub seinen Kopf an meiner Schulter und ich drückte die Hand an seinen Rücken. In diesem Augenblick war ich das einzige, woran er sich festhalten konnte. Er fühlte, seine Emotionen waren da. Ich fühlte nichts. Wir ließen einander los. Wesley stellte sich neben mich und öffnete die Tür. Der Raum sah so aus wie immer. Und auch Keith saß an seinem gewohnten Platz. Er hatte einen Zettel in der Hand. „Hallo." Er drehte sich nicht um. „Danke, dass ihr gekommen seid." Er war heiser. Meine Mutter presste ihre Hand gegen den Mund. Mein Vater stand mit regungsloser Miene da und schaute meine beste Freundin an. Sophie lag da wie letztes Mal und schlief mit einem seligen Gesichtsausdruck. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich wollte euch vorlesen, was sie geschrieben hat", flüsterte Keith und wedelte mit dem Zettel in der Luft herum. Wir traten näher an das Bett heran und Wesley legte seine Hand auf meinen Arm. „Hallo, ich bins, Sophie", fing Keith an, die ersten Zeilen vorzulesen. Wesleys Hand rutschte meinen Arm hinunter und berührte meine Hand. Ich egriff seine Hand und drückte sie. „Ich habe gestern so einen Film mit Amber gesehen, in dem ein Mann einen Unfall hatte und er nur noch an Geräten hing und ziemlich erbärmlich aussah. Seine Familie wollte ihn nicht gehen lassen und ich dachte mir die ganze Zeit, warum? Das ist doch besser, ihn sofort sterben zu lassen, als sich vergeblich Hoffnung zu machen. Also, wenn ich irgendwann im Koma liege oder so, was glaube ich nicht passieren wird, aber falls doch, lasst mich gehen. Schaltet diese hässlichen Geräte ab. Mein Hab und Gut vermache ich meinem Vater und meinen Kindern, wenn ich welche habe. Ach ja, und meine Leiche soll verbrannt werden und dann soll meine Asche in so einer coolen Urne in ganz Peoria verstreut werden. Lol, war nur ein Witz. Verstreut mich am See. Hab' euch alle lieb! Peace Out! Gezeichnet, Sophie Gilson. Meine Mundwinkel wollten sich nach oben biegen. Typisch Sophie, sie musste wirklich alles zu einem Witz machen, selbst ihren eigenen Tod. Aber ich konnte nicht lächeln. Mein Körper fühlte sich schwer an. Es war still im Raum, nur die Geräusche des Beatmungsgeräts und das EKG waren zu hören. Die Stille wurde unterbrochen, als eine Schwester und eine Ärztin den Raum betraten. Es war 12 Uhr 55. „Du wirst immer die große Liebe meines Lebens bleiben. Ich liebe dich, Sophie", sagte Wesley mit gebrochener Stimme. Seine Augen waren angeschwollen und rot. Ich weinte nicht. „Du bist die beste Tochter, die man haben kann. Wir lieben dich alle, Sophie und du wirst immer in unseren Herzen bleiben." Meine Lunge brannte und ich fror leicht. Zitternd griff ich nach Sophies Hand. Ich hab' dich lieb, okay? Vergiss das nicht, wenn du ein schönes Leben im Himmel führst. Danke dafür, dass du immer für mich da warst. Keith hielt ihre andere Hand und Wesley drückte ihr einen letzten Kuss auf die Lippen. Die Sonnenstrahlen, die durch das kleine Fenster in den Raum fielen, ließen Sophies Körper in einem seltsamen Licht erscheinen. „Sind Sie bereit?" fragte die Ärztin. Nein. Alles in mir wollte losrennen und die Ärztin davon abhalten, ihre Hand an das Beatmungsgerät zu legen. Meine Augen zuckten bei jeder kleinen Bewegung, die sie machte. Die Fülle der Emotionen im Raum schien mich zu erdrücken. Sie pressten gegen meinen Kopf und machten es mir schwer, aufrecht zu stehen. Die Ärztin hielt mit der Hand hinter dem Gerät inne und sah uns an. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos, ohne jegliches Mitgefühl. Wie konnte jemand nur so gefühllos sein? Als ob es sie nicht interessierte, dass sie gerade jemandem das Leben nahm. Sie machte eine Handbewegung und noch im selben Moment ertönte ein Klicken. Nach ein paar Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, war das Geräusch des Beatmungsgeräts nicht mehr zu hören. Die Krankenschwester zog den Schlauch aus Sophies Mund. Ihr Körper versuchte, nach Luft zu ringen, doch es funktionierte nicht. Das gleichmäßige Heben und Senken ihrer Brust hörte auf. Sophie lag still, ihre Hand ruhte schlaff in meiner. Ein langes Piepen zeriss die schreckliche Stille im Raum. Es war vorbei. Keith schluchzte laut auf und legte seinen Kopf neben Sophie. Wesley weinte ebenfalls, aber leise. Die einzige, die nicht weinte, war ich. Die Stimmung war unerträglich und ich, fühlte mich hilflos und schlecht, weil ich nicht weinte. Die Gefühle der anderen schienen mich zu ersticken. Die Krankenschwester hatte den Piepton abgestellt. Ich sah zum letzten Mal in Sophies lebloses Gesicht. Es war vorbei. Die Sehnsucht nach ihr und der Schmerz nahmen mir die Luft. Sophies Hand war noch warm, als ich sie zum Abschied drückte. Dann rannte ich aus dem Zimmer. Ich musste hier weg. Das alles hätte niemals passieren sollen, niemals! Ich rannte auf den Parkplatz hinaus und setzte mich ins Auto. Mein Puls raste, meine Augen brannten und mein Herz war so unglaublich schwer, doch ich konnte nicht weinen. Wenig später kam mein Dad zum Auto. Er setzte sich auf den Fahrersitz und fuhr los. „Wohin fährst du? Was ist mit Mom?", flüsterte ich. Mein Hals wollte keinen Ton rauslassen. „Ich fahre dich nach Hause und dann hole ich deine Mom nach", sagte er. Als er aus der Parklücke fuhr, kam eine Erinnerung auf und das Bild erschien vor meinem inneren Auge.

Alle Kinder meiner zukünftigen Klasse saßen in einem Stuhlkreis und wir alle saßen da und lauschten unserer zukünftigen Klassenlehrerin Mrs Hamdey, wie sie uns den Ablauf des Schultages erklärte. Ich schielte zu dem Mädchen mir schräg gegenüber. Sie war mir von Anfang an aufgefallen. Mit ihren langen, schwarzen, lockigen Haaren sah sie interessant und lustig aus. Ich wollte unbedingt wissen, wie sie hieß. Wir ertappten uns beide dabei, wie wir uns gegenseitig ansahen und lächelten. Ich konnte es kaum erwarten, dass die Stunde endlich zu Ende war und ich dieses Mädchen kennenlernen konnte. „Wir machen eine fünfminütige Pause und danach eine Rallye im Schulgebäude", sagte Mrs Hamdey. Sofort sprangen alle auf und gingen zu ihren Rucksäcken. Das Mädchen hatte ihren Rucksack neben meinen gestellt. Als ich hinging und meine Lunchbox rauszog, tippte sie mir auf die Schulter. „Guck mal wir haben dieselbe Lunchbox", sagte das Mädchen und zeigte mir ihre. Tatsächlich. Das war dieselbe gelbe Lunchbox mit Enten drauf. „Wie heißt du?", fragte ich sie. „Sophie, und du?" fragte sie zurück und lächelte. „Amber." Sophie zog einen Apfel aus ihrer Box und strahlte mich an. „Wollen wir Freundinnen sein?"

Mein Dad setzte mich vor der Haustür ab und fuhr zurück ins Krankenhaus. Nachdem ich ins Haus eingetreten war, überkam mich eine Welle von Übelkeit. Statt auf die Toilette zu rennen, lief ich in mein Zimmer. Ein Gefühl der Ohnmacht überkam mich. Ich setzte mich auf den Boden. Der Druck, der auf mir gelegen hatte, zog mich herunter und ich stützte mich mit den Händen auf den Boden. Meine Augen füllten sich mit Tränen, die im nächsten Moment heiß meine Wangen hinunterliefen. Mein ganzer Körper bebte. Mir entfuhr ein markerschütternder Schrei und ich fing laut an zu schluchzen. Alles was mir in den letzten Monate passiert war, hatte sich in einem riesen Bündel hoch gekämpft und kam jetzt heraus. Brock war in Afghanistan. Ich war schwanger. Sophie war tot. All diese Gefühle stürzten auf mich ein und versuchten, mich in einem Ozean voller Trauer, Wut und Enttäuschung zu ertränken. Etliche Bilder der Vergangenheit wurden angespült. Ich rang nach Luft und krümmte mich vor Schmerz, den ich in der Brust empfand. Die Hände gegen die Brust gepresst, berührte ich meine Kette. Sophie und Amber für immer. Ich wollte alles anhalten und die Zeit zurückdrehen, ich wollte zurück und alles anders machen, einfach nur zurück. Aber die Zeit lief erbarmungslos weiter.

Neun Monate ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt