S e c h s

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...

Ich hörte meine Schwester gegen die Tür hämmern, doch ich ignorierte es. Tief atmete ich ein und aus, dabei versuchte ich meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. "Eins, zwei ..", murmelte ich leise vor mich hin und versuchte so mich zu beruhigen. Doch Nichts hielt das Gefühl in mir zurück. Nichts hielt das schwarze Etwas zurück – es stieg und stieg. Ich spürte wie es von Sekunde zu Sekunde immer mehr wurde und dann drehte ich mich um und übergab mich ein weiteres Mal.

"Harry, bitte mach die Tür auf", rief Gemma besorgt und drehte ganze Zeit am Türknopf.

Nach einer Zeit würgte ich nur mehr, da mein Magen leer war. Wie lange wird das hier dauern? Wie lange werde ich wie ein Elend leben? Mit zitternden Hand wischte ich mir über den Mund und stand vorsichtig auf. Ich betätigte die Spülung und drehte mich erneut zum Waschbecken um – mein Spiegelbild fiel mir ins Auge. Die Person, die vor mir stand, erkannte ich nicht mehr. Ich wusste, dass ich diese Person war doch sie schien mir so fremd. Als würde eine fremde Person in mir leben.

Ich spülte meinen Mund aus und spritzte mir etwas Wasser in mein Gesicht. Danach ging ich zu Tür und öffnete sie, ging aus dem Badezimmer als wäre nie Etwas passiert. Ohne ein Wort setzte ich mich wieder zum Esstisch und starrte mein Essen an. "Es tut mir leid", entschuldigte ich mich. Ich wusste nicht wofür, doch es schien in dem Moment angemessen.

"Möchtest du darüber reden?", fragte Gemma vorsichtig. "Harry du musst etwas zu dir nehmen, du -"

"Nicht unbedingt", schüttelte ich meinen Kopf und sah zu meiner Schwester. "Ich möchte nicht wirklich darüber reden", ignorierte ich den zweiten Teil. Natürlich wusste ich, dass ich etwas zu mir nehmen musste und ich wünschte ich könnte es. Doch ich konnte nicht – ich konnte nicht einmal einen Biss nehmen.

Mein Dad wechselte das Thema. Ich denke das war die einzige Sache, indem meine Familie gut war – so tun als wäre nie Etwas passiert.

...

"Wo hast du studiert?", fragte ich Keegan und sah mich in seinem Büro um. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich sehr wohl hier. Vielleicht, weil er einst dasselbe durchmachte wie ich.

"Glasgow – wundervolle Stadt. Warst du schon einmal dort?", saß er in seinem Ledersessel und sah mir nach.

Ich schüttelte den Kopf: "Ich war noch nie außerhalb von England."

"Verstehe", sah ich ihn nicken. Keegan überlegte kurz und fragte: "Nie das Interesse gehabt, oder aus anderen Gründen?"

"Geld", gab ich ihm die Antwort ohne überhaupt nachzudenken. "Das Geld war das Hauptproblem, als ich jünger war."

"Und jetzt?" Ich sah zu ihm, worauf Keegan mich geduldig ansah. Anfangs dachte ich, er würde seine Interesse gegenüber meinem Leben nur inszenieren – doch ich lag falsch. Keegan war tatsächlich interessiert. "Ist es noch immer das Geld?"

Erneut sah ich ihn an. Es war viel zu früh ihm Alles zu erzählen. Ich konnte ihm doch nicht von meinen Kämpfen erzählen, oder nicht? "Das Geld ist das kleinste Problem derzeit. Ich wollte die Welt mit ihr bereisen."

"Und das geht jetzt nicht mehr, weil du die Welt nicht ohne sie sehen möchtest?", nahm er an. "Du willst für immer hier bleiben und nie etwas sehen?", stellte mir Keegan die nächste Frage.

"Ich möchte nicht hier bleiben. Ich möchte weg und das weißt du", sah ich nun aus seinem Fenster. Seine Praxis war in einem Ort außerhalb von London, weswegen die Straßen kaum befahren waren. Es herrschte eine Ruhe, die ich mir so nicht mehr gewohnt war. An manchen Nächten öffnete ich das Fenster in meinem Schlafzimmer um wenigstens irgendwelche Geräusche in der Wohnung zu hören. Seitdem sie fort war, war es in dieser Wohnung unheimlich leise. Die Woche, bevor sie ging, waren noch zwei Kinder, ein Hund und vier Erwachsene in der Wohnung. Es gab wortwörtlich keine stille Minute. Und jetzt vergingen Stunden ohne jeglichen Ton. "Ich habe eigentlich ein Stipendium in Amerika bekommen."

12 Letters to you - Promise Me III.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt