Kapitel 10

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Meine Nacht war kurz und ziemlich bescheiden. Deshalb stand ich sehr früh auf und machte mich zu Fuß auf in die Pampa um frische Luft zu konsumieren und Gedanken zu sortieren. Ja – Nein – Ja – Nein. Fühlst du tatsächlich Liebe für Nael? Oder war der Gefühlsausbruch der Gesamtsituation geschuldet?

Tatsächlich fühlte ich mich wieder so, als fühlte ich nichts. Vielleicht wollte ich auch gar nichts fühlen. So ein Herz war schließlich verletzlich.

Während ich so in Gedanken versunken war, entfernte ich mich immer weiter vom Schloss. Sehr weit. Je weiter ich ging, desto schneller reparierte sich meine Schutzhülle. Irgendwie hatte ich wieder so ein komisches Ziehen in der Brust...

(Nael) Mir war schlecht! Ich hatte keine Kraft auf meinen eigenen Beinen zu stehen. Als ich in den Spiegel gegenüber meinem Bett sah, erblickte ich einen Nael, den ich nicht kannte. Was passierte mit mir? Meine Hände zitterten. Mein Herz stolperte. Ich rief nach meiner Mutter. Als sie eintraf und mich sah, fegte sie in Ribannas Zimmer nur um festzustellen, dass sie nicht da war. Wo war sie? Hatte sie mich verlassen? Ich verlor kurzzeitig das Bewusstsein. Als meine Mutter, das Handy am Ohr, mit Mark zurückkam, hievten sie mich ins Bett. Und die Nacht legte sich wieder auf meine Augen.

Mein Handy holte mich zurück in die Realität.

„Ja?"

„Ribanna. Hier ist Regina. Wo bist du?"

„Spazieren, irgendwo in der Pampa. Ich hatte frische Luft dringend nötig."

„Du musst sofort zurückkommen. Nael geht es schlecht. Er braucht dich."

„Was hat er denn? Gestern ging es ihm doch noch so gut."

„Wir nennen es das Missing-Match-Syndrom. Was auch immer ihr in Berlin gemacht habt, das Syndrom ist jetzt sehr aktiv. Je weiter du dich von ihm entfernst, desto mehr nähert er sich der Schwelle des Todes. Dass du nicht in seiner Nähe bist, zehrt ihn aus. Ich schick dir mal was."

Mein Handy empfing ein Foto.

„Komm schnell zurück." Regina legte auf.

Das Foto war entsetzlich. Es zeigte Naels Gesicht, das grau und eingefallen war. Er sah aus wie ein alter Mann kurz vor seinem Tod. War das ein Fake? Nein, es war keiner. Ich drehte auf der Stelle um. Ich wollte nicht schuld an seinem Tod sein. Ich lief so schnell ich konnte zurück. In der Burg angekommen stürmte ich in sein Zimmer, in dem Regina und Mark an seinem Bett standen, dass er aufgrund der Schwäche nicht verlassen konnte. Er sah noch schlimmer aus als auf dem Foto.

Regina sah mich dankbar an, ergriff meine Hand und legte sie ihm auf die Brust. Genau auf sein Herz. Es schlug fast gar nicht mehr.

„Was passiert hier?" Ich verstand die Situation nicht.

„Du bist sein Match. Sein Körper, besser: seine Gene wissen das. Sie reagieren auf dich. Entfernst du dich zu weit von ihm, verliert er seine Lebenskraft. Nur deine Anwesenheit kann sie ihm wiedergeben. In einer derart starken Ausprägung habe ich das noch nie gesehen. Es ist wesentlich schlimmer als bei seinem Vater. Ribanna, mach dir keine Vorwürfe. Du konntest das nicht wissen. Bleib bei ihm. So dicht wie möglich. Du kamst noch rechtzeitig, er wird sich erholen." Regina sah mich zuversichtlich an.

Regina entschuldigte sich. Auch sie war fertig mit den Nerven. Meine Hand lag immer noch auf seinem Herzen, das langsam wieder regelmäßiger und kräftiger schlug. Ich legte mich an seine Seite, die Hand wie festgepinnt.

„Ribanna?" Seine Stimme war nur ein zarter Hauch von Nichts.

„Ich bin da Nael. Dir wird es bald besser gehen. Schlaf jetzt. Ich gehe nicht weg." Während ich versuchte ihn mit meinen Worten zu stärken, zerfraß mich die Frage, warum er mir das nicht erzählt hatte mit diesem komischen Syndrom.

„Wie weit warst du weg?"

„Ich war spazieren. Von hier ca. 4 km."

„Nicht weggehen, bitte." hauchte er.

Obwohl ich mir eigentlich keine Vorwürfe zu machen hatte, hatte ich wahnsinnige Gewissensbisse. Und irgendwo in meinem Herzen keimte etwas auf. Ein kleiner Spross von... war es Liebe?

Über der Grübelei und Nichtstuerei schlief ich irgendwann ein.

Regina weckte mich.

„Alles ok bei dir?"

„Ja, alles ok." Ich betrachtete Nael. Er sah viel besser aus, schlief aber immer noch.

„Was ist mit ihm? Wie lange dauert das?"

„Hmm. Bei seinem Vater war das nicht halb so schlimm. Wenn ich ihn mir so ansehe, denke ich, dass er morgen wieder ganz der Alte ist. Prüft bitte jeden Tag, wie weit ihr euch voneinander entfernen könnt, ohne dass das passiert."

„Meinst du, ich kann mal auf die Toilette?" Ich war stark verunsichert.

„Ich bin ja da. Geh mal. Ich bringe dir danach was zu essen."

So verbrachte ich den restlichen Tag und auch die Nacht an Naels Seite. Regina schaute ab und zu nach uns. Er hatte sich immer noch nicht gerührt. Optisch schien es ihm aber sehr viel besser zu gehen. Er sah wieder aus wie Nael. Die Atmung ging regelmäßig und das Herz tat auch, was es tun sollte.

(Nael) Da lag sie, direkt neben mir. Ein massives Hochgefühl kam in mir auf. So sollte jeder Morgen beginnen. Wie konnte ich ihr nur helfen sich ihrer Gefühle für mich klar zu werden? Ich wusste, dass sie mich auch liebte. Ich hatte es nach dem Konzert in ihren Augen gesehen. Dem Tor zur Seele. Wahrscheinlich hatte sie die Gefühle nur tief in sich vergraben. Ich verzog mich ins Bad. Danach würde ich sie wecken und mit ihr einen schönen Tag verleben.

Ich wurde durch einen Kuss auf die Stirn geweckt. Schnell stellte ich fest, dass es Nael war, der das Bett bereits verlassen hatte.

„Guten Morgen du Schlafmütze und danke, dass du so schnell zurückgekommen bist. Du hast mir das Leben gerettet." Er setzte sich aufs Bett.

„Wie geht es dir?" fragte ich besorgt.

„Gut. Du bist ja bei mir.Wir haben heute viel zu tun. Wir müssen dringend ausprobieren, wie weit wir uns voneinander entfernen können ohne, dass ich Symptome bekomme. Wie war das? 4 Kilometer? Mein Vater und meine Mutter konnten sich auf den Punkt genau 127,3 Kilometer voneinander trennen."

Dagegen waren 4 Kilometer wirklich nichts.

Ich ging duschen und zog mich an, danach frühstückten wir in Naels Zimmer. Nael erzählte mir noch vieles von seiner Welt, das ich nicht verstand und mir auch nicht vorstellen konnte. Ich musste es einfach selber sehen, wahrnehmen und ausprobieren. Bei unserem Entfernungstest stellen wir schnell fest, dass es nicht mal mehr 4 Kilometer waren, sondern nur noch 2.

Regina und ich durchforsteten meine Klamotten. Da ich jetzt auf maßgeschneidert umgestiegen war, brauchte ich den Rest nicht mehr. Einen Teil beförderten wir in die Kleiderkammer, einen anderen in den Container.

„Ich bring das Zeug schnell weg, dann komme ich und helf dir bei dem anderen Kram." sagte ich zu Regina. Sie nickte, während sie noch die Sachen für die Kleiderkammer zusammenlegte. Also machte ich mich auf den Weg in den Burghof, wo an diskreter Stelle ein Container für alles mögliche abgestellt war. Als ich wiederkam, fand ich Regina auf meinem Bett sitzend vor. Sie hielt den Brief meines Vaters in den Händen.

„Ribanna, nicht, dass du denkst, ich wollte schnüffel oder so. Dieser Brief ist mir beim Zusammenlegen in die Hände gefallen und ich denke er bedeutet dir etwas." Sie drückte mir den Brief in die Hand.

„Er bedeutet mir viel, Regina. Danke, dass Du ihn mir gegeben hast." Ich wusste nicht, ob sie ihn gelesen hatte oder nicht, aber darüber reden wollte ich schon mal gleich gar nicht.

(Nael) Sie war mein Match, daran gab es keine Zweifel. Zweifeln konnte ich allerdings daran, ob sie mitkommen würde oder nicht. Ein Nein konnte ich nicht akzeptieren. Zwingen konnte ich sie aber auch nicht. Sterben. Wenn sie nein sagen würde. müsste ich mich definitiv mit meinem Tod abfinden. Ich rechnete fest mit einem Nein. Zweifel. Vielleicht konnte ich meine Gensperre umgehen, indem ich dieses Gefühl manifestierte? Das würde bestimmt funktionieren. Ja. And the winner is: Missing-Match-Syndrom + Zweifel. Lieber tot als ohne sie. Ich musste nur dem Zweifel Raum geben. Ich würde es auf jeden Fall ausprobieren. So konnte ich die Sache vielleicht verkürzen.

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