Emotionsvolle Unterhaltung

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Aber es hörte nicht auf. Es war bereits etwa dreiundzwanzig Uhr und es hatte noch nicht aufgehört zu schneien. Beinahe schien es so, als würde mit jeder Stunde der Schneefall stärker werden. Um etwa zweiundzwanzig Uhr hatten Rolf und Lydia kapituliert und hatten sich schlafen gelegt. Da Alec für die Rückfahrt fit sein musste, schlug Jensen vor, dass er sich in dem schmalen Gästebett etwas ausruhen sollte. Mein Bruder lag keine fünf Minuten auf der Matratze und war gleich in einen tiefen Schlaf gefallen.
Das Kaminfeuer knisterte und spendete wohlige Wärme. Ich hatte mich auf die Couch gelegt und kuschelte mich in die weichen Kissen, doch Schlaf fand ich keinen. Lediglich hielt ich die Augen geschlossen, damit keine peinliche Stille zwischen mir und Jensen herrschte, der mit einem Tee auf der gegenüberliegenden Seite der Couch saß und gedankenverloren in die hellen Flammen blickte. Ab und zu hörte ich sein Pusten oder wie er die Tasse auf dem niedrigen Holztisch abstellte, um in einem Buch herumzublättern, das Lydia gehörte.
Es vergingen Minuten, vielleicht auch Stunden. Plötzlich spürte ich eine Last auf mir und schreckte hoch.
„Entschuldige, entschuldige.", haspelte Jensen leise. „Ich bin's nur.".
Ich blinzelte verwirrt. Scheinbar musste ich kurz eingeschlafen sein. Verschlafen blickte ich zu dem jungen Mann hinauf, der gerade dabei gewesen war eine Wolldecke über mich zu legen und diese nur noch an einem Ende hielt.
„Ich dachte, du frierst vielleicht.", erklärte er sich und ließ die Decke los, um zu seinem Platz zurückzugehen.
„Danke.", nuschelte ich und richtete mich auf. In die Decke kuschelte ich mich hinein und schielte dann hinüber zu dem Schauspieler, der wieder das Buch zur Hand genommen hatte. „Was liest du da eigentlich?", fragte ich ihn, um ein Gespräch aufzubauen.
Jensen sah auf, klappte das Buch zu und las den Titel vor: „Endlose Liebe von Scott Spencer.", entgegnete er. „Die Ausgabe von 1979.". Dies erklärten die Gebrauchsspuren und die gelblichen, dünnen Seiten.
Ich musste bloß schmunzeln. Dieses Genre passte nicht wirklich zu ihm. Als hätte er meinen Blick bemerkt, erwiderte das Schmunzeln und schien etwas rot zu werden, was man allerdings durch das flackernde, orange-rote Licht des Feuers nicht so gut erkennen konnte.
„Durch den Schneesturm haben wir kein Netz.", verteidigte er sich. „Irgendwas musste ich ja machen.".
„Ja, ja.", erwiderte ich. „Schon gut.". Stille. Aber bloß kurz. „Willst du dich nicht schlafen legen?", fragte ich ihn.
Er lächelte leicht und legte das Buch auf den Tisch. Dann schüttelte er mit dem Kopf. „Ich bin nicht wirklich müde.", gestand er. „Meistens gehe ich so um drei Uhr nachts schlafen und stehe dann um acht, neun Uhr wieder auf.".
„Wow.", hauchte ich. „Da wäre ich als Langschläferin aber ganz schön überfordert, wenn ich nur sechs Stunden schlafen dürfte.".
„Man gewöhnt sich daran.", meinte Jensen lächelnd. „Außer Dustin... der hat das mit dem früh aufstehen irgendwie nie wirklich hinbekommen.".
Ich musste leise kichern und blickte in das helle Feuer. „Ja. Das passte zu ihm. Er hat immer am längsten von uns geschlafen. Ohne Probleme, zwölf Stunden durchgehend.".
Auch Jensen lächelte breit, nickte und sah ebenfalls in die Flammen, die sich in seinen wachen Augen spiegelten. Voller Bewunderung sah ich ihn an. Für seine hohen Wangenknochen und den vollen Lippen hätte so manche Frau wahrscheinlich getötet. Mir gefiel die Art, wie er nachzudenken schien. Seine Zornesfalte war leicht zu sehen, als er sich einmal mit der Hand über seine Bartstoppel fuhr. Plötzlich wandte er sich vom Kamin ab und blickte mich stattdessen an.
„Weißt du-.", hauchte er sanft, während in seinen Augen ein leichter Tränenfilm schimmerte. „Dustin hat dich von euch beiden am meisten geliebt.".
Ich hielt die Luft an. Die Stimmung war so schön gewesen, wieso musste er jetzt über Dustin reden?
„Zwar hat er zu Alec am meisten aufgeschaut.", fuhr er unbehindert fort. „Aber er hat von dir am meisten geredet... Und du scheinst genauso zu sein, wie er dich beschrieben hat.". Jensen lächelte, senkte seinen Blick und zupfte scheinbar etwas verlegen an dem feuchten Teebeutel herum, den er auf ein Taschentuch, neben seiner Tasse, hingelegt hatte. „Er hat von dir regelrecht geschwärmt, als wärst du irgendein Superstar.".
Ich musste etwas kichern, doch in meinen Augen standen Tränen. Dies hielt den Schauspieler allerdings nicht ab weiter zu reden.
„Er hat immer nur gesagt, wie schlau und schön du doch bist... Wie schlagfertig. Und wie stur.".
Ich seufzte und schniefte kurz. „Ja, besonders damit hatte er recht.".
Jensen sah auf. Auch in seinen Augen standen Tränen. Scheinbar hatten die beiden eine innige Verbindung gehabt.
„Dustin scheint dir vertraut zu haben.", hauchte ich, als Jensen wieder seinen Blick auf den Boden senken wollte. „Das konnte er nicht bei vielen.".
Der Schauspieler nickte. „Ich weiß.", meinte er. „Er war für mich wie ein kleiner Bruder.".
Es war erstaunlich, dass die beiden wahrscheinlich zehn Jahre Altersunterschied trennten und sie trotzdem so gute Freunde geworden waren. Vielleicht hatte Dustin versucht sich – neben unserem Bruder Alec – ein Vorbild zu suchen. Immerhin hatte er schon als kleiner Junge geträumt ein großer Schauspieler zu werden, was in unserer Familie nicht immer mit Verständnis aufgenommen worden war.
Während meine Gedanken zu meinen kleinen Bruder wanderten, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich schluchzte. Mein Körper bebte. Krampfhaft versuchte ich nicht zu weinen, doch es gelang mir nicht. Mein Herz fühlte sich an, als hätte man ein riesiges Loch hineingeschlagen.
„Tut mir leid.", hörte ich Jensen sagen. „Ich wollte nicht... Ich meine, ich hatte nicht vor.", stammelte er, verstummte aber, als ich mit dem Kopf schüttelte. Ihn traf keine Schuld.
„Nein.", wimmerte ich kläglich. Meine Stimme klang so jämmerlich, dass Jensen gequält das Gesicht verzog. „Es ist nur-.", fuhr ich fort und brachte den letzten Teil des Satzes kaum noch heraus. „ich vermisse ihn so.".
Jensen erhob sich, als ich mein Gesicht mit den Händen bedeckte, die schon bald mit Tränen und Nasensekret bedeckt waren. Ich spürte, wie er sich neben mich setzte. Gleich darauf legte sich eine Hand, die heißer erschien, als das Feuer, auf meinen Rücken und strich in langsamen, beruhigenden Kreisen über den Stoff meines Pullovers. Seine Berührung elektrisierte, stieß in jede meiner Fasern. Aber ich konnte nicht aufhören zu weinen. Schließlich zog mich Jensen mit seinem zweiten Arm in eine Umarmung, der ich nicht entrinnen konnte. So ließ ich mich einfach sinken und bettete meinen Kopf an seiner Brust, die sich sachte hob und senkte. In anderen Umständen hätte ich diese Situation wahrscheinlich genossen, doch ich war wie betäubt. Keinen klaren Gedanken konnte ich fassen. Ich bekam noch nicht einmal mit,was Jensen sagte, um mich zu trösten. Lediglich seine Stimme vernahm ich und seinen heißen Atem, der meine Stirn leicht streifte.
Es musste eine Weile vergangen sein, bevor meine Tränen versiegelten. Paralysiert richtete ich mich auf und löste mich so von Jensen, der mich besorgt musterte. Man konnte sehen, dass er mich am liebsten gefragt hätte, wie es mir ginge, sich jedoch die Frage verkniff, da sie absurd war – natürlich ging es mir schlecht, das war deutlich zu sehen.
Ich brauchte etwas frische Luft. Das würde meine Gedanken reinigen. Stumm richtete ich mich auf und ging zu den Stühlen, über dessen Lehne ich meine Jacke gehängt hatte. Flink schlüpfte ich hinein.
„Was machst du?", fragte Jensen verwundert, nicht zu laut, dass er die anderen weckte, aber gerade so laut, dass ich ihn verstand.
„Ich brauche frische Luft." wisperte ich zurück und wischte mir flink die letzten Überreste meiner Tränen weg.
„Jetzt?", erwiderte Jensen und verzog verwirrt das Gesicht. „Es ist stockdunkel.".
„Ich bin praktisch in diesem Wald aufgewachsen.", versicherte ich, während ich Richtung Tür ging und mir dann eine Taschenlampe griff, die immer auf dem Tischchen neben dem Eingang stand. Kurz prüfte ich, ob sie noch funktionierte und öffnete dann die alte Holztür.
Es hatte immer noch nicht aufgehört zu schneien. Dustins SUV war inzwischen vollkommen unter den Schneemassen verschwunden. Selbst auf der Veranda, die unter einem Vordach stand, hatte sich durch den Wind eine dünne, weiße Schicht gebildet. Durch den Schnee war es glücklicherweise nicht ganz so dunkel. 
Ich schloss die Tür hinter mir und atmete die eiskalte Nachtluft ein. Mich umgab gleich eine Kälte, die mich trotz warmer Jacke frösteln ließ. Den Lichtstrahl der Taschenlampe richtete ich vor mich und trat dann von der Veranda in den hohen Schnee, der mir fast bis zu den Knien ging. Obwohl ich hohe Stiefel trug, verirrte sich gleich etwas Schnee in den Schuhen, der meine Hose und meine Socken klamm machte. Wahrscheinlich würde ich eh eine Erkältung bekommen.
Plötzlich wurde hinter mir die Tür der Jagdhütte geöffnet. Ich wirbelte herum und fing Jensens Blick auf, der sich im Türrahmen eine schwarze Daunenjacke überstreifte. Weiße Wölkchen stiegen empor, als er überrascht ausatmete und mit zittrigen Fingern den Reißverschluss seiner Jacke schloss. So leise wie möglich schloss er die Eingangstür, um ja keinen zu wecken und setzte sich dann in Bewegung.
„Unglaublich, dass es noch kälter werden kann.", nuschelte er und vergrub seine Hände in den Seitentaschen, als er die zwei Stufen von der Veranda ging und sich zu mir gesellte. „Ich will zurück nach Texas.".
„Möchte ich auch, aber man gewöhnt sich daran.", meinte ich und beobachtete seine Lippen, die vor der Kälte bebten.
„Das glaube ich nicht.", erwiderte er.
„Du kannst ja wieder reingehen.".
Er schüttelte mit dem Kopf. „Ich lasse dich nicht alleine nachts in den Wald gehen.".
Ich schmunzelte über seine Besorgnis. „Es ist nachts im Wald sicherer als in der Stadt.", erklärte ich und setzte mich in Bewegung. Jensen folgte mir.
„Ich glaub nicht.", meinte er trocken.
„Doch.", widersprach ich. „Welcher Vergewaltiger oder Verbrecher würde schon stundenlang im eiskalten Wald warten, bis zufällig, eventuell jemand kommen würde?".
Der Schauspieler gab ein nachdenkliches Brummen von sich. Inzwischen hatten sich viele kleine Schneeflocken in seinen kurzen Haaren verfangen. Es amüsierte mich, wie er schweigend neben mir herlief und sich teilweise paranoid umblickte, weil ein Ast im Unterholz geknackt hatte. Ich hingegen kannte die Geräusche des Waldes – auch bei Nacht. Es hatte etwas vertrautes an sich, wenn die Rufe von Eulen die Stille der Nacht zerrissen oder ein Kaninchen im Gebüsch herumhopste.
„Wohin gehen wir eigentlich?", hörte ich Jensen nach einer Ewigkeit fragen, der durch das erschwerte Gehen, durch den hohen Schnee, ziemlich außer Puste war.
„Kannst du etwa nicht mehr?", fragte ich ihn neckisch und grinste schelmisch.
„Ich bin zu alt für weite Wanderungen.", hörte ich ihn theaterisch seufzen.
Ich kicherte leise. „Es ist nicht mehr weit.", erklärte ich und deutete mit dem Finger in die Ferne. „Dahinten ist eine kleine Lichtung. An deren Ende ist eine Höhle, da müssen wir rein.".
„Höhle?", fragte Jensen etwas geschockt.
„Warte erst einmal ab.", erwiderte ich rasch, bevor er noch etwas sagen konnte.     
Die Nadelbäume wurden weniger. Schon als wir am Anfang der Lichtung ankamen, erkannte ich unter dem Schneeberg den riesigen Felsen, in dessen Inneren eine Überraschung wartete. Als wäre dies mein eigenes zu Hause, machte ich die ersten Schritte in die Höhle hinein, wurde jedoch von Jensen zurückgehalten, der blitzschnell seine Hand um meinen Oberarm schloss.
„Du willst doch nicht so einfach da rein gehen, oder?", fragte er entsetzt und machte große Augen. Die leichte Angst war ihm wie ins Gesicht geschrieben. Darüber konnte ich nur schmunzeln.
„Hast du etwa Angst?", provozierte ich ihn.
Zerknirscht ließ er meinen Arm los und sah noch einmal zurück. Ihm war anzusehen, wie sehr er mit sich kämpfte. Schließlich murmelte er irgendetwas Unverständliches, nahm mir die Taschenlampe aus der Hand und drängelte sich an mir vorbei. Mit einem triumphierenden Grinsen folgte ich ihm.

Wie Rome und JuliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt