Stunden später hatte ich mich einigermaßen beruhigt. Ich hatte mich etwas abgelenkt, indem ich die Wohnung geputzt und Wäsche gewaschen hatte. Vielleicht hätte mir ein klärendes Gespräch mit einer Freundin oder einem Freund mehr genützt, doch so konnte ich die letzten Stunden noch einmal in Ruhe reflektieren.
Mir wurde klar, dass ich nicht einfach so hätte gehen sollen. Nun würden mich seine Eltern noch mehr hassen – wenn das überhaupt ginge. Denn noch mehr war wohl nicht möglich, oder doch? Ich hoffte bloß, dass ich sie nie wieder sehen würde. Nicht einmal hätte ich ihnen in die Augen blicken können. Insbesondere nicht Donna Ackles! Das teure Valentino-Kleid war ruiniert. Ich betete, dass sie mir keine Rechnung zustellen lassen würden. Dieses Kleid war wahrscheinlich teurer als drei meiner Monatsgehälter!
Als ich gerade dabei war die Wäsche auf einem Wäscheständer aufzuhängen, klingelte es an der Tür. Kurz hielt ich inne und überlegte, ob ich die Tür öffnen sollte. Doch ich fürchtete, es könnte Jensen sein, weshalb ich auch das zweite Klingeln ignorierte und weiter die dunklen Sachen aufhing. Dann hörte ich erst einmal nichts. Ich dachte, Jensen hätte aufgegeben. Wie konnte er auch denken, ich würde ihm die Tür aufmachen, wenn ich noch nicht einmal mit ihm reden wollte? Dachte er wirklich, ich hätte meine Meinung innerhalb von ein paar Stunden einfach so geändert? Dann kannte er mich wirklich schlecht!
Plötzlich erweckte ein dumpfes Geräusch meine Aufmerksamkeit. Es klopfte an meiner Wohnungstür! Wie war Jensen bloß hier hineingekommen? Hatte er etwa bei den Nachbarn geklingelt und behauptet, er hätte sich ausgesperrt? Zugetraut hätte ich es ihm.
Erneut klopfte es. Ich entfernte mich vom Wäscheständer und trat in den Flur hinein. Ohne durch den Türspion zu blicken, rief ich Richtung Wohnungstür: „Jensen, lass mich in Ruhe! Ich will dich nicht sehen!".
Zu meiner Überraschung war es nicht Jensen, der mir antwortete.
„Hier ist nicht Jensen!", erwiderte die vertraute Männerstimme. Irgendwie war ich erleichtert. Nein, mehr als das. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich die Stimme des Mannes hörte, der mich und meine Brüder liebevoll aufgezogen hatte.
„Rolf?", fragte ich, obwohl ich wusste, wer sich draußen befand.
„Ja, ich bin's.", erwiderte die sanfte Stimme.
Ich überbrückte die Distanz zwischen mir und der Wohnungstür und öffnete sie. Rolf sah mich mit seinen treuen Augen an. Schon immer hatte er diese väterliche Ausstrahlung gehabt. Diese beschützerische Aura. Man wollte ihm all seine geheimen Sorgen und Wünsche mitteilen, da man wusste, dass sie bei ihm sicher waren und er sie niemanden erzählen würde. Außerdem hatte er immer, zu jeder Zeit und zu jeder Situation das richtige Wort auf den Lippen. Schon als kleines Mädchen hatte mich seine Weisheit und Intelligenz eingeschüchtert. Erst später lernte ich beides zu schätzen und bewunderte es.
„Hey, Kleine.", begrüßte er mich mit einem schiefen Lächeln. An seinem Gesichtsausdruck sah ich, dass er bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte. Vielleicht lag es auch bloß daran, dass ich wahrscheinlich noch ziemlich verweint aussah.
„Hey.", erwiderte ich und runzelte verwirrt die Stirn. „Was machst du hier?".
Rolf kräuselte seine Lippen, sah kurz auf den Boden und dann in meine Augen. „Jensen hat mich angerufen.", meinte er und seufzte. „Er hat mir von eurem kleinen Streit erzählt und mich, zum einen, gebeten seine Sachen zu holen und zum anderen, mal nach dir zu sehen.".
Ich schluckte hart. Eigentlich dachte ich, dass meine Tränen versiegelt waren, doch ich spürte wieder diesen Kloß im Hals und die heiße Flüssigkeit, die sich in meinen Augen ansammelte. Damit mein Großonkel eintreten konnte, trat ich beiseite. Ich sah auf den Boden. Er sollte nicht sehen, dass ich wieder kurz davor stand zu weinen.
Als Rolf in die Wohnung getreten war, schloss ich die Tür.
„Es war eigentlich kein Streit.", erklärte ich und versuchte es beiläufig klingen zu lassen. „Es war eher eine.. eine Eingebung.".
„Was für eine Eingebung?", fragte Rolf, doch beantwortete seine Frage selbst. „Dass seine Eltern oberflächliche Volltrottel sind?".
Obwohl ich vor Trauer beinahe platzte, musste ich schmunzeln und nickte. Ja, Rolf war schon immer so direkt gewesen. Und ja, genau das war das Ackles-Ehepaar! Nicht mehr und nicht weniger. Oberflächliche, arrogante, hochnäsige und selbstverliebte Volltrottel!
„Komm mal her.", hauchte er und öffnete seine Arme für eine Umarmung, in die ich mich zu gerne ziehen ließ. Ich spürte seine kratzigen Bartstoppel an meiner Stirn, als er mich fest an sich drückte und sanft hin und her wiegte. Erleichtert schloss ich meine Augen. Mir tat der Halt gut, den er mir gab und immer geben würde, bis er seine Augen für immer schloss. Für mich war er mehr als bloß mein Großonkel. Er war in gewisser Weise mein Vater. Er hatte mich nicht gezeugt, aber das machte ja keinen Unterschied. Er hatte mich großgezogen.
Eine Weile standen wir umschlungen da. Dann löste Rolf die Umarmung auf und strich mir meine Tränen von den Wangen, die heruntergerollt waren. „Ich weiß, wenn man jung ist, kommt das einem wie das Ende der Welt vor.", hauchte er und lächelte schief.
Ich schniefte. „Ich bin kein Kind mehr, Rolf.", meinte ich. „Ich weiß, wie sich eine Trennung anfühlt.".
„Genau, du bist kein Kind mehr.", bestätigte der alte, weise Mann und legte seine Hände auf meine Schultern. „Und genau deswegen solltest du dich aufraffen und noch einmal mit Jensen reden.".
Ich schüttelte den Kopf. „Das würde nichts bringen.", erklärte ich tieftraurig.
„Doch, das würde es.", widersprach Rolf. „Hör' zu, Kleine. Jensen hat am Telefon wirklich traurig geklungen. Er hörte sich beinahe so an, als wäre gerade seine Welt zusammengebrochen... Und wenn ich dich so ansehe glaube ich, dir ergeht es nicht anders... Also rede mit ihm. Ruf ihn an.".
Erneut schüttelte ich mit dem Kopf. „Ich kann nicht.", hauchte ich. Es war die Wahrheit.
„Wieso nicht?", fragte Rolf und nahm seine Hände von meinen Schultern.
„Ich kann einfach nicht.", wiederholte ich und zuckte mit den Achseln. „Nicht nachdem, was passiert ist. Und außerdem gibt es nicht viel zu bereden.".
„Das glaube ich nicht.".
„Was soll ich denn sagen?", rief ich aus. „'Ich passe nicht in deine Welt, tut mir leid, dass ich das nicht früher erkannt habe!' So etwas?".
Rolf seufzte. Er war die Gelassenheit in Person. Stets geduldig. Stets aufmerksam. Stets hilfsbereit. „Hat es sich falsch angefühlt, als du mit ihm zusammen warst?", fragte er und sah mich an, als wüsste er die Antwort bereits.
Ich schüttelte mit dem Kopf.
„Siehst du.", meinte Rolf und lächelte. „Dann passt du in seine Welt.".
„Aber-.".
„Nichts aber.", unterbrach er mich. „Es kann euch egal sein, was seine Eltern über dich denken, solange ihr zwei glücklich seid.".
„Das hat Jensen auch gesagt.", murmelte ich.
„Siehst du. Jensen hat da vollkommen recht.", bestätigte Rolf. „Es sieht wohl so aus, als wärst nur noch du diejenige, der es nicht egal ist und die zwischen euch steht... Ich verstehe, warum du dir Sorgen machst. Es ist nicht leicht für eine Beziehung, wenn die Eltern oder die Erziehungsberechtigten nicht damit einverstanden sind... Das hat dich aber damals auch nicht davon abgehalten von North Bay wegzulaufen.".
Ich rollte mit den Augen und musste schmunzeln. „War klar, dass du mir das wieder vorwirfst.", meinte ich.
Rolf lachte kehlig und strich mir einmal voller väterlicher Liebe über meine Wange. „Überlege dir gut wie es weiter gehen soll.", riet er. „Du könntest irgendwann aufwachen und alles bereuen.".
Kurz nickte ich, woraufhin Rolf seine Hand von meiner Wange nahm. Auf einmal wollte ich alleine sein und über die Worte meines Großonkels nachdenken. „Ich denke, du solltest Jensen seine Sachen bringen.", meinte ich deshalb und deutete mit der Hand Richtung Schlafzimmer, dort wo sein Koffer stand. „Er vermisst sie bestimmt schon.".
Rolf verstand. Das tat er immer. Er setzte sich in Bewegung und verschwand im meinem Schlafzimmer. Mit langsamen Schritten ging ich ihm hinterher und lehnte mich an den Türrahmen, während ich beobachtete, wie er den Koffer schloss.
„Oh, sein Kulturbeutel liegt noch im Bad, warte.", bemerkte ich und huschte flink ins Badezimmer. Ich nahm seine Zahnbürste aus dem Becher und steckte sie in die schwarze, kleine Tasche hinein. Dann sein Deo, sein Parfüm und sein Haarwachs. Zum Schluss sein Duschgel und sein Haarshampoo. Ich schloss die Tasche, ging zurück zu Rolf und reichte sie ihm, der sie daraufhin im Koffer verstaute.
Rolf sah mich an und seufzte. Daraufhin trat er näher und drückte mir einen Kuss auf den Kopf. „Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn etwas ist, okay?".
Ich nickte.
Daraufhin setzte sich Rolf in Bewegung und ging an mir vorbei. Mitten im Türrahmen blieb er ruckartig stehen und drehte sich noch einmal um. „Ach.", machte er. „Das hätte ich beinahe vergessen... Ich soll dir von Jensen ausrichten, dass er in ein paar Tagen wieder nach North Bay fliegt. Etwas eher als Lydia und ich. Und wenn er bis dahin nichts von dir gehört hat, nimmt er es als Bestätigung, dass es zwischen euch vorbei ist.".
Hart schluckte ich. „Okay.", hauchte ich und nickte.
„Kopf hoch, Kleine. Du schaffst das. Ich glaube an dich.", sagte Rolf bloß zum Abschied und ließ mich dann mit meinen Gedanken alleine.
Seufzend wollte ich die Schlafzimmertür schließen, als mir etwas hellgraues ins Auge fiel. Ich runzelte die Stirn und ging zu meinem Bett hinüber. Halb unter der weißen Bettdecke versteckt, lag noch eins von Jensens T-Shirts. Erst wollte ich raus rennen und Rolf aufhalten. Doch dann hielt ich mir das graue Stück Stoff an die Nase und atmete Jensens Geruch ein. Ich knetete den weichen, wohlriechenden Stoff in meinen Händen und ließ mich auf die Matratze sinken... Was sollte ich bloß tun?
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Wie Rome und Julia
Fanfiction„Weißt du.", sagte er mit zitternder Stimme, die verriet, dass er jeden Augenblick in Tränen hätte ausbrechen können. „Ich dachte, das mit uns wäre etwas besonderes. Ich dachte wirklich, wir hätten eine Zukunft... Wir zwei, in Dustins Haus... mit ei...