Verzögerte Ankunft

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29. Dezember, 23:31 Uhr

Völlig erschöpft und bis zum äußersten Rand genervt, stieg ich aus dem fast leeren Zug aus und hievte meinen schweren Koffer auf den Asphalt, der von einer Schneeschicht bedeckt wurde.
Weil das Glück natürlich wie immer auf meiner Seite war, wurde mein Flug Richtung North Bay wegen eines Schneesturms kurzfristig gestrichen. Alle Passagiere wurden deshalb in einen Ersatzflieger gesetzt, der uns zum "Ottawa International Airport" brachte – knapp vier Stunden von meinem eigentlichen Zielort entfernt. Um Jensen, den ich über mein Handy angeschrieben hatte, diese Fahrzeit zu ersparen, hatte ich den Zug genommen und stand nun mitten auf dem einzigen, verlassenen Bahnhof in meiner alten Heimatstadt.
„Ophelia!", hörte ich durch den pfeifenden Wind jemanden rufen und drehte mich um. Ich blinzelte, da man durch den Schneesturm kaum etwas erkennen konnte. Als die größe, männliche Person näher kam, erkannte ich den grünäugigen Schauspieler. Er hatte seine Haare unter einer grauen Wollmütze versteckt und wirkte durch die Dicke seiner Jacke gleich zwanzig Kilo schwerer.
„Hey!", schrie ich gegen den Wind an und vergrub meinen Kopf etwas mehr in meine Kapuze, mit der ich aussah, wie ein Eskimo.
„Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr hier an.", witzelte er und umarmte mich kurz zu Begrüßung, auch wenn wir durch unsere Jacken kaum die Arme heben konnten.
„Ja.", erklärte ich leicht gereizt. „Das musste ja ausgerechnet mir passieren.".
Jensen lächelte kurz und nahm mir dann meinen schweren Koffer ab. „Dann komm.", meinte er, drehte sich um und lief vorraus. „Dann lass uns dich mal ins Warme bringen.".

Es dauerte keine zwanzig Minuten, da öffnete Jensen die Haustür zu Dustins Haus und ließ mich in den Vorraum eintreten, der die gleiche Größe hatte wie mein gesamtes Schlafzimmer. Sogleich empfing mich eine wohlige Wärme, die mir eine Gänsehaut verschaffte. Während Jensen meinen Koffer schon einmal nach oben, in das Gästezimmer brachte, zog ich meine Jacke und meine Stiefel aus. Voller Vertrautheit ging ich in das Wohnzimmer und musste zu meiner Verwunderung feststellen, dass alle Möbel in die Mitte geschoben wurden und mit einer Plane bedeckt wurden. Aber nicht nur auf den Möbeln lag eine milchige Plastikplane, sondern auch auf dem Boden, die mit Krebband fixiert worden war. Außerdem roch es noch ein wenig nach frischer Farbe. 
Die zuvor weißen Wände, waren nun fast alle in einem warmen Nussbraun gestrichen worden – bis auf eine.
Hier soll wohl die Landschaft hin, dachte ich und fragte mich gleich, was sich Jensen wohl überlegt hatte. Ein wenig neugierig machte mich das schon und irgendwie konnte ich es gar nicht erwarten anzufangen. Meinen Blick ließ ich weiter durch das Wohnzimmer wandern. Mir fielen sogleich mehrere gerahmte Fotos auf, die auf der Ablage, oberhalb des Kamins, standen. Neugierrig schlenderte ich darauf zu und betrachtete jedes Einzelne von ihnen. Eins hatte es mir ganz besonders angetan. Es zeigte drei junge Personen. Das Mädchen schien nicht älter als zehn zu sein. Ich erkannte den jugendlichen Jensen Ackles sofort, auch wenn er der anderen männlichen Person ziemlich ähnlich sah, die nicht viel älter sein konnte als er. Alle drei standen um einen Schneemann herum und grinsten breit in die Kamera, während leichter Schnee fiel.
„Das sind meine Geschwister und ich.", hörte ich eine Stimme plötzlich neben mir sagen und zuckte zusammen. Schnell wirbelte ich herum und blickte in zwei grüne Augen, die gedankenverloren auf das Foto blickten. Ein leichtes Schmunzeln hatte sich auf den Lippen des Schauspielers ausgebreitet. Auch er hatte sich seiner Outdoor-Kleidung entlegt und stand dort mit dunkler Jeans und einem schwarzen Hemd. Ich schluckte, als sein würziger Duft aufgewirbelt wurde, als er das gerahmte Foto in die Hand nahm und auf das kleine Mädchen zeigte. „Das ist meine kleine Schwester, Mackenzie und das-.", er deutete auf den jungen Mann. „ist mein älterer Bruder Josh.".
Ich warf ihm einen Seitenblick zu und spürte ein Kribbeln in meinem Magen, als ich dieses stolze Glitzern in seinen Augen bemerkte.
„Leben sie auch in Dallas?", fragte ich.
„Mackenzie schon.", meinte er. „Aber Josh wohnt in New York.". Er stellte das Foto wieder zurück. „Teilweise sehen wir uns nur zu Geburtstagen.", erklärte er etwas traurig. „Da hast du es wahrscheinlich etwas leichter.".
Ich lächelte mild. „Schon, ja.", meinte ich. „Aber ich vermisse Dustin. Das war das erste Weihnachten ohne ihn.".
Schmerzlichst erinnerte ich mich an die vergangenen Tage. An das beinahe traurige Stillschweigen während dem gemeinsamen Essen, weil jeder zu Dustins leerem Platz sah. Das führte uns vor Augen, dass man erst etwas schätzte, wenn es nicht mehr da war.
„Das kann ich mir vorstellen.", meinte der Schauspieler mitleidig. „Ich vermisse ihn auch. Besonders seine schrecklichen Witze, die so schlecht waren, dass es eigentlich schon wieder lustig war.".
Ich lachte leise. Ja, das war typisch Dustin.
„Oder dass er irgendwelche Bilder schickte, die wirklich nur er lustig finden konnte.", fügte er hinzu.
„Oh ja.", bestätigte ich und kriegte gleich etwas Tränen in den Augen, die ich aber zurückhalten konnte. „Mir fehlt auch einfach seine Stimme... sein Lachen. Seine Art, einfach alles.", ich merkte wie meine Stimme brüchig wurde. „Dass er mich bei jeder Umarmung hochgehoben hat... Dass er... dass er immer versucht hat aus ernsten Situationen das Beste zu machen... Oder... dass... er niemanden lange böse sein konnte. Ja, ich vermisse sogar seine komischen, hässlichen Superheldenshirts, die er praktisch bei jeder Veranstaltung an hatte.". Es gelang mir nicht die Tränen zurückzuhalten. Mir entwich ein Schluchzer.
„Hey.", machte Jensen sanft. „Komm mal her.". Er trat einen Schritt auf mich zu, legte seine Hände auf meinen Rücken und zog mich zärtlich in eine Umarmung. Eine Hand strich beruhigende Kreise über den Stoff meines Pullovers, während die andere Hand sich auf meinen Hinterkopf legte und mein Gesicht leicht gegen seine Brust drückte.
Ich schloss die Augen und genoss den Moment von menschlicher Nähe. Würziges Parfüm gemischt mit Jensens intensiven Eigengeruch, brachten die Schmetterlinge dazu in meinem Bauch zu tanzen, auch wenn dies nicht der richtige Zeitpunkt war. Obwohl ich gerne ewig so da gestanden hätte, zwang ich mich nach einem Moment der vollkommenen Stille, mich aus seiner Umarmung zu lösen und brachte ein entschuldigtes Lächeln zustande, als ich mich einen Schritt von ihm entfernte. „Tut mir leid.", schniefte ich. „Du musst denken, dass ich eine richtige Heulsuse bin.".
Energisch schüttelte der Schauspieler den Kopf und runzelte die Stirn. „Quatsch.", sagte er ernst. „Du trauerst. Das ist vollkommen normal.".
Wieder schniefte ich, ehe ich antwortete: „Danke, Jensen.". Ein mildes Lächeln kam über meine Lippen, das den Schauspieler etwas grinsen ließ, als wäre es ein Reflex. 
„Wofür?", fragte er dennoch.
Ich zuckte mit den Schultern. „Einfach für alles.", meinte ich schließlich. „Dafür, dass du dieses Haus gekauft hast. Und dass du Dustin so ein guter Freund warst. Und dass ich hier sein darf.".
„Das ist selbstverständlich.", entgegnete er schulterzuckend, als hätte er mir gerade bloß geholfen eine Dose zu öffnen.
Ich konnte nichts weiter tun als zu lächeln. Flink wischte ich mir die Tränen weg und deutete dann Richtung Steintreppe. „Ich geh dann mal schlafen. Das war ein anstrengender Tag.".
Jensen nickte. „Ja, mach das.", bestätigte er, auch wenn ich dachte, dass seine Stimme etwas enttäuscht klang. „Schlaf gut und bis morgen.".
„Bis morgen.", bestätigte ich und verließ dann das Wohnzimmer.

Wie Rome und JuliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt