Jaxon wusste nicht genau wieso, doch er betrat den Wald mit der Erwartung, tausend Geräusche wahrzunehmen. Schreie, Geraschel, ein Zischen vielleicht oder sogar Schritte. Riven hatte von Schreien erzählt. Doch alles war still. Als ob kein Leben mehr existieren würde, welches die Schrei produzieren konnte. Doch dann wiederum war er sich sicher, dass selbst der Tod lauter war, als die erdrückende Stille, welche in diesem Moment auf der Insel lag.
Seit dem ersten Schritt, welchen er in den Wald gesetzt hatte, wusste er, wieso Riven sich vor dem Wald gefürchtet hatte. Selbst ohne gesehen zu haben, wie jemand darin starb, fühlte er sich darin fehl am Platz. So, wie er sich vor mehreren Stunden vollkommen unwohl im Wasser gefühlt hatte, war es nun auch im Wald. Alles darin fühlte sich schlichtweg fremd an. Nicht, wie der Wald, den er bereits seit Jahrzehnten ein und aus kannte, nicht wie der Wald auf seiner Insel und aus seiner Vorstellung. Diese Insel war nicht mehr seine Insel. Irgendetwas hatte sie übernommen. Etwas hatte seine Insel erobert, ohne dass er es überhaupt mitbekommen hatte und somit auch keinen Widerstand geleistet hatte. Er fühlte es genau. Wie seine Macht darüber schwand, wie seine Gaben nach und nach abschwächten, wie die Insel ihm fremd wurde und wie er ihr fremd wurde. Während es sich früher immer angefühlt hatte, als wären sie eins, so hatte sich das nun geändert. Er hatte keine Kontrolle mehr darüber und Jaxon wusste, dass das Unbekannte oder die Unbekannten, welche nun die Macht darüber hatten, ihn zerstören wollten. Mit jeder vergangenen Stunde hatten sie ihm etwas genommen und er wusste, dass sie darauf abzielten, ihm auch noch die letzten zwei Dinge zu entreissen, welche ihm etwas bedeuteten. Riven und Silas. Und erst dann, nachdem sie ihm alles genommen hatten, würden sie ihm den Todesstoss versetzen und ihn auslöschen. Als würde das Unbekannte es geniessen, ihm auf die sadistischste Art und Weise ein Ende zu bereiten.
Wieso genau er das wusste? Es war nicht mehr als ein Gefühl. Einfach etwas, dass er sich sicher war, weil er in seinen Fingerspitzen spürte, was ihm bevorstand. So sicher war er sich noch nie bei einer Vorahnung gewesen.
Ein Schauer jagte seinen Rücken hinunter, als er einen Blick nach links auf Riven warf, welche dicht bei ihm lief. Ihre Hand mit seiner verschlungen, sodass er ihre Wärme spüren konnte und das Leben, welches ihren Körper durchflutete. Ihre kupferfarbenen Haare hatte sie zu einem unordentlichen Zopf zusammengeflochten, sodass ihre Locken ihr nicht ständig ins Gesicht fallen konnten. Nein, das würde man ihm nicht wegnehmen. Nicht Riven. Und auch nicht Silas. Er hatte den Verlust der restlichen Jugendliche überlebt und durchgestanden und jeder einzelne davon hatte Schmerzen und Schuldgefühle in ihm hochgerufen. Aber er wäre verdammt, würde er zulassen, dass man ihm die Beiden nahm. Und ebenfalls würde er nicht zulassen, dass die Beiden noch mehr durchstehen mussten, als sie es bereits getan hatten. Er hatte nie gewollt, dass all das passierte. Seine Insel hätte ein Paradies für jeden sein sollen, der dafür bestimmt war und kein Albtraum. Kein Mensch sollte dazu verdammt sein zweimal zu sterben.
Zu seiner und zur Überraschung von allen passierte nichts. Sie konnten für Stunden laufen, ohne dass sie angegriffen wurden, ohne dass irgendetwas geschah, dass sie beunruhigen konnte. Und genau das war das, was ihnen eine verdammte Angst einjagte. Hinter jedem Gebüsch, jedem Baum und jedem Felsen erwarteten sie die Schatten oder die dunkle Gestalt, welche Riven beschrieben hatte. Eine hohe Körperspannung und den Reflex sofort zu fliehen oder zu kämpfen, sollte dies nötig sein, war also unvermeidlich. Doch alles, was sie sahen, waren die Auswirkungen des Bebens. Dieses hatte mittler weilen gestoppt. Ab und zu lagen Felsbrocken an Stellen, an denen sie nicht hin gehörten, manchmal waren Bäume umgeknickt. Eigentlich war so gut wie ein Drittel der Bäume umgeknickt. Ein unwichtiges Detail, hatten sie sich gedacht, doch ihre Einstellung änderte sich, als irgendwann, nachdem sie vielleicht die Hälfte der Strecke durch den Wald hinter sich gebracht hatten, die umgefallenen Bäume und Felsstücke immer häufiger auftraten. Ab und zu stolperte jemand der drei über einen Ast, doch auch das war kein allzu grosses Problem. Die Mauer, welche vor ihnen gut sieben Meter in die Höhe ragte und sie somit von ihrem Ziel trennte, das war ein Problem.
"Langsam beginne ich zu glauben, dass du Recht damit hast, dass wir in der Höhle sicher sein könnten, Riven.", murmelte Silas ratlos und starrte an der Mauer auf und ab, "Es sieht nämlich so aus, als würde irgendetwas mit aller Kraft verhindern wollen, dass wir dort ankommen."
Umgeknickte Bäume, zerstörte Pflanzen, Felsbrocken, allerdings genauso Pflanzen, welche noch vollkommen in Takt waren, hatten sich so ineinander verfangen und sich miteinander verflochten, dass sie zusammen eine unüberwindbare Mauer bildeten. Unüberwindbar, weil es keine Möglichkeit gab hindurchzukommen und weil das Risiko zu hoch war, dass sie zusammenfiel, wenn man versuchte darüber zu klettern.
"Hier kommen wir nicht durch, wenn wir nicht riskieren wollen, dass wir lebendig begraben werden.", wisperte Riven und machte vorsichtig ein paar Schritte nach vorne, bis sie direkt vor der Mauer stand. "Du hast Recht, Silas. Das hier ist nicht natürlich, irgendetwas will uns davon abhalten, auf die andere Seite der Insel zu kommen."
"Oder aber die Insel will etwas davon abhalten auf unsere Seite zu kommen.", murmelte Jaxon leise und fuhr sich in Gedanken durch seine Haare.
"Hast du etwas gesagt, Jaxon?"
Langsam schüttelte er seinen Kopf und trat neben sie, legte seine Hand neben ihre auf einen Baumstamm, welcher schräg auf einen Felsen gelehnt war. In ihrem Kopf die Frage, wie sie die Mauer überwinden konnten, in seinem die Frage, ob sie sie überhaupt überwinden sollten. Was, wenn es einen Grund dafür gab, dass sie bisher noch nicht in Schwierigkeiten gekommen waren? Was, wenn all die Schatten und das dunkle Unbekannte auf der anderen Seite lauerte? Was, wenn die Mauer eigentlich ein Schutz war?
"Wir könnten sie umgehen, so lange wird diese Mauer nicht sein. Sie wird kaum ein Problem für uns darstellen. Bloss eine Verzögerung."
"Jede Verzögerung ist ein Problem, Riven. Zumindest hier auf dieser Insel und zu dieser Zeit. Verzögerungen werden das sein, was uns töten wird.", murmelte Jaxon abwesend.
"Und du hältst mich für einen Pessimisten?", grinste Riven Silas kurz zu, welcher bloss mit seinen Schultern zuckte.
"Ich habe nie gesagt, dass Jax keiner ist."
Die Beiden begannen zu lachen, während Jaxons Gesichtsausdruck ernst blieb. Er hörte ihnen gar nicht zu. Stattdessen schloss er seine Augen und konzentrierte sich auf das warme Holz des Baumes unter seinen Fingern. Während vielleicht seine Verbindung zu den Jugendlichen gekappt worden war, so bestand diese noch immer zur Natur. Wenn auch nicht mehr so stark wie früher. Und in diesem Moment fühlte er ihn deutlich unter seinen Fingerspitzen. Der Tod. Seine Hand fuhr langsam weiter. Von dem einen Baumstamm zum Nächste, doch das Gefühl veränderte sich nicht. Sie alle waren tot.
"Wir könnten natürlich versuchen zu klettern.", hörte er Riven hinter sich sagen, doch dann blendete er ihre Stimme erneut aus. Langsam tastete er sich blind an der Mauer entlang, bis er kaltes Gestein unter seiner Handfläche spürte. Normalerweise hätte er, wenn er genau hinhörte, die Steine wispern hören müssen. Aber sie schwiegen, wie alles andere es auch tat. Das einzige, was er hörte, war ein Knirschen unter seinen Fingern und als dieses immer lauter wurde, öffnete er seine Augen und machte einige Schritte nach hinten, als er erkannte, dass es funktioniert hatte. Der Felsen bekam Risse. Es spielte keine Rolle, was er davon hielt, die Mauer zu überqueren. Sie hatten beschlossen die Höhle aufzusuchen, das würden sie tun. Zweifel hin oder her.
"Was zur Hölle...", entfuhr es Riven. Sie und Silas stolperten nach hinten, leicht erschrocken, doch als sie ihren Blick Jaxon zuwandten, welcher seine Hände zu Fäusten geballt hatte und fixiert auf den Felsen und die Risse vor sich starrte, verstanden sie, was passierte. Und gut zwei Minuten später blickten sie auf einen Riss in der Felswand, welcher genügend breit war, dass sich ein Mensch seitwärts hindurchquetschen konnte.
"Das ist natürlich auch eine Lösung.", murmelte Silas hypnotisiert, "Einfach den verdammten Felsen in zwei Hälften spalten. Was bist du? Moses?"
"Wäre ich ihn, wäre ich jetzt wohl im Himmel und nicht in der Hölle."
Augenverdrehend lief Silas an Jaxon vorbei und blieb erst stehen als er vor dem Riss war.
"Man erkennt nichts. Der Tunnel führt ins Nichts, alles ist bloss schwarz.", gab er von sich, drehte sich dann um und grinste breit, "Genau wie unsere Zukunft, passt doch. Ich gehe zuerst und werde euch rufen, wenn die Luft rein ist. Versucht mich nicht allzu sehr zu vermissen."
DU LIEST GERADE
Coppery
Fantasy"Man kann von jedem Ort auf der Erde entfliehen, wenn man es wirklich will." "Vielleicht stimmt das für jeden Ort auf der Erde, aber nicht für das Reich der Toten. Jeder Einzelne, den du hier siehst, ist tot, Riven. Eingeschlossen du selbst."