Mit schlotternden Beinen sitzen Kate und ich gegenüber der verglasten Scheibe, hinter der sich eine uniformierte Polizistin mit längst überfälliger Blockierung befindet, die uns dahingehend informiert hat, Candice sei gerade dabei, etwas zu begutachten.
»Mann, wie lange braucht sie denn noch?«, flüstert Kate nervös und betrachtet mal wieder ihre künstlichen Nägel, die diesmal in einem Altrosa gestrichen sind.
»Keine Ahnung, aber ich glaube nicht, dass sie noch lange Arbeit hat«, entgegne ich, um mich selbst etwas zu beruhigen.
»Da ist sie!«, zischt Kate schon im nächsten Moment und deutet auf den Gang rechts hinter dem Schalter.
Wie auf Knopfdruck stehen wir beide auf und laufen auf Candice zu.
Ihre Schultern hängen und ihre Wimperntusche ist verschmiert.
Kaum sind wir bei ihr, schließen wir unsere Arme wie ein Schutzschild von vorn und hinten um sie.
Schluchzen erschüttert ihren Körper. Aber wir halten sie fest. So fest, dass sie sich einfach hätte fallen lassen können, ohne zu Boden zu stürzen.
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Ich greife nach dem eisernen Tor mit seiner abblätternden Farbe, die sich rau unter meinen schmalen Fingerkuppen anfühlt. Es quietscht leise, als ich es öffne und Candice und Kate hinter mir eintreten lasse.
Der nächste Tag ist angebrochen und Candice wollte ihre Mutter besuchen. Diesmal wirklich. Sie hat sich nicht länger an kalte Autopsiefotos geklammert und ist auf einen Weg gestoßen, sie trotzdem besuchen zu können.
Die Morgensonne verbirgt sich hinter dunkelgrauen Wolken und ein sachter Wind weht mir die Haare kitzelnd ins Gesicht. Kate und ich legen jeweils einen Arm um Candice und begleiten sie zwischen all den Grabsteinen zu dem von ihrer Mutter. Wenn ich mich an die Beerdigung von Candice' Mutter vor vier Jahren zurückerinnere, dann weiß ich, dass ihr Grab ganz am Ende des Friedhofs das vorletzte in der Ecke war.
Schweigend schlängeln wir uns an all den kleinen Bildchen von Menschen vorbei, die nun in der Erinnerung von geliebten Personen Leben finden.
Plötzlich bleibt Candice stehen und löst sich von unseren Armen. Sie blickt uns mit schmerzverzerrtem Ausdruck entgegen. »Wisst ihr«, beginnt sie, »es ist so, als wäre sie gestern Abend erneut gestorben.« Candice starrt in die wolkenbehangene Ferne. Der leise Wind spielt sachte mit ihren offenen Locken. Dann sieht sie wieder zu uns. Dicke Tränen haben sich in ihren olivgrünen Augen gesammelt. »Schon komisch, dass meine Mutter für mich in den letzten vier Jahren zur selben Zeit tot und lebendig war. Wie kann man so bescheuert sein und in einer derartigen Realität leben? Das ist so verrückt!«
»Jedenfalls bist du nicht verrückter als Erwin Schrödinger«, sage ich plötzlich und ernte dafür verwirrte Blicke von Candice und Kate.
»Ihr kennt Schrödingers Katze nicht?«, frage ich etwas irritiert nach und sichte als Antwort nur noch verdutztere Visagen.
»Sag schon, wie das alles zusammenhängt«, fordert mich Kate auf, weil sie bemerkt, dass Candice offenbar ernsthaftes Interesse an meiner Aussage hegt.
»Gut«, beginne ich. »Bei Schrödingers Katze treffen Mikro- und Makrokosmos aufeinander. Die Katze ist ein Teil des Makrokosmos und für solche Teile, zu denen übrigens alle Dinge gehören, die wir sehen können, ist es normal, dass sie entweder zerstört oder heil sind; sie sind entweder verbogen oder gerade, fest oder flüssig; entweder tot oder lebendig. Für Teilchen im Mikrokosmos, also Quantenobjekte, ist es allerdings ganz gewöhnlich, dass sie an mehreren Orten gleichzeitig sind. Bis wir sie beobachten jedenfalls. Wenn wir dies tun, dann verhalten sie sich plötzlich wie Objekte aus dem Makrokosmos.«
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Greyforks | Staffel 2 || Serie
Mystery / Thriller*WATTYS 2019 WINNER* Staffel 2 der Wattpad-Serie "Greyforks" ▶︎ Bitte nicht weiterlesen, wenn ihr mit Staffel 1 noch nicht durch seid. ● ● ● Nachdem Josephine von der Polizei abgeführt wurde, versuchen Candice und Kate herauszufinden, wie Eckstein i...