5.1 ♛ Kate

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»Wo der wohl hinführt...«, staunt Josephine und späht nach unten.

»Da bleibt uns nur eines, wir müssen es herausfinden«, verkündet Candice mit leuchtenden Augen und setzt als erste einen Fuß auf die Leiter, die in die tiefe Dunkelheit führt.

»Wartet, Leute«, sage ich dann, »ich schreibe nur Mary noch schnell eine SMS, dass sie und Liam nachkommen sollen und frage sie, ob sie schon mal was von dem Tunnel gehört haben. Vielleicht ist der ja gefährlich.«

»Geht klar.« Candice steigt trotzdem schon furchtlos die Leiter runter.

Brandon folgt ihr.

Die Schritte der beiden hallen aus dem tiefen Loch zu uns herauf.

»Kann man schon was erkennen?«, schreie ich nach unten.

»Wir sind am Boden angekommen«, dringt die verhallte Stimme von Candice zu uns. »Der Tunnel geht hier weiter.«

Ich blicke noch einmal kurz auf mein Handy, um zu checken, ob Mary mir vielleicht eine Nachricht hinterlassen hat. Normalerweise schreibt sie innerhalb einer Minute bereits zurück. Aber Fehlanzeige, Mary hat sich bisher noch nicht gemeldet.

»Komm, Josephine«, weise ich ihr an, »steig hinunter. Ich folge dir.«

Etwas verdutzt blickt sie mich an, dann tut sie jedoch, was ich ihr gesagt habe.

Sie ist echt völlig neben der Spur. Auch wenn die Gefahr bestanden hätte, Jo würde wieder zu ihrer Spritze greifen, hätten wir sie besser zu Hause lassen sollen. Leider können wir jetzt nichts mehr daran ändern. Wir haben sie an der Backe.

Die rote Metallleiter ist nicht befestigt, wackelt zum Glück jedoch nur sehr leicht, weil sie noch in gutem Zustand ist. So wage auch ich es, einen Fuß darauf zu setzen.

Unten angekommen schaue ich mich um. Der Tunnel muss von Hand in die Erde gegraben worden sein. Ein langer Gang, in dem ich Candice' und Brandons tanzendes Licht sehe, führt von uns weg. Es riecht etwas muffig, doch der Geruch von feuchter Erde neutralisiert den Gestank etwas.

Der Gang ist ziemlich nieder, sodass ich mich etwas bücken muss. Da hat es Josephine eindeutig einfacher. Sie ist so klein, dass sie mit aufrechter Haltung durchmarschieren kann, ohne mit ihren Haaren die Decke zu küssen. Ich bin aber auch froh, dass ich keine hohen Absätze trage. Mit denen hätte ich hier ernsthafte Schwierigkeiten gehabt. Brandon muss es so ergehen. Er kann nicht einfach seine Schuhe ausziehen, um in Sekundenschnelle zehn Zentimeter kleiner zu sein. Er müsste sich für Fuß oder Kopf abhacken entscheiden.

»Seht ihr schon was?«, schreie ich zu Candice und Brandon nach vorne. Mein Ruf hallt durch den engen Tunnel.

Immer wieder rieselt etwas Erde auf uns herab.

»Nein«, kommt es etwas undeutlich von Candice, weil sie ihren Kopf nicht nach hinten dreht, »der Tunnel geht immer weiter.«

»Kate, ich habe etwas Angst, dass der Tunnel über uns einstürzt«, jammert Josephine vor mir mit brüchiger Stimme.

»Das wird schon nicht passierten«, keuche ich angestrengt vom Laufen und schiebe sie weiter.

Mir ist klar, dass ich ihr mit meiner Antwort keinen großen Gefallen tue, aber Josephine soll verdammt noch mal aufhören, immer so 'ne Pussy zu sein. Als sie mir mein Auto ausgehängt hat, dachte ich schon, sie wäre cool geworden, doch kaum ist sie von den scheiß Tabletten runter, wird sie wieder die lahmarschige Jo.

Nach fünf Minuten will ich beinahe genervt fragen, wann wir denn endlich da sind, als der Ruf von Candice durch den Tunnel hallt.

»Da ist eine Leiter«, brüllt sie und ich kann förmlich fühlen, wie mir in diesem Moment ein Stein vom Herzen fällt. Ich halte es nämlich keine Minute länger in diesem luftarmen, muffigen Tunnel aus.

Ich vernehme Schuhsohlen, die über eiserne Leitersprossen steigen, ehe ich die lang ersehnte Leiter zwischen Josephine ebenfalls aufblitzen sehe. Licht fällt durch den Schacht, der nach oben führt. Weil es kein Tageslicht sein kann, vermute ich, dass der Tunnel in einem Raum endet.

»Schnell, steig hoch«, dränge ich Josephine, weil sie kurz zögert.

»Verdammte Scheiße!«, ertönt plötzlich die Stimme von Candice, die jetzt in einem geschlossenem Raum zu stehen scheint.

»Das habt ihr euch wohl nicht erwartet, richtig?«, vernehme ich dann die fiese Stimme von Mary.

In diesem Bruchteil eines Augenblicks, weiß ich, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Irgendwas stimmt hier ganz gewaltig nicht. Instinktiv streicht mir eine schaurige Gänsehaut den Rücken hoch.

Josephine und ich halten inne.

Ich blicke nach oben und sehe zwischen Josephines Gestalt, die hohe Decke des Raumes aufblitzen, der bestimmt schon etwas älter ist. Er muss mindestens achtzig Jahre alt sein.

»Aber Mary...«, will Candice ansetzen, doch sie redet ihr ins Wort.

»Ganz recht«, zischt sie, »ihr seid auf uns reingefallen. Habt ihr ernsthaft geglaubt, dass wir aus dem Chester's Clan aussteigen wollen?« Sie lacht laut und hämisch.

Dann vernehme ich Schritte auf dem knarzenden Holzboden über uns.

Im nächsten Moment blicke ich in Marys fieses Gesicht, das uns von oben betrachtet. »Und ihr beiden braucht gar nicht erst versuchen, unerkannt zu bleiben. Der Ausgang am anderen Ende des Tunnels wird auch bereits bewacht, keine Sorge.« Sie lacht wieder böse auf.

Ich seufze. Wir hätten ihr und Liam von Anfang an nicht vertrauen sollen. Es war ziemlich dumm, zu glauben, die beiden könnten trotzdem auf unserer Seite stehen. Und der Kuss zwischen Mary und mir muss auch bloß ein blöder Trick gewesen sein, um mich zu manipulieren. Der Trick mit dem Handy als Abhörgerät hätte eine erste Warnung sein müssen. Natürlich hat sie so getan, als würde es ihr leidtun.

Beinahe kommt es mir so vor, als wäre es Josephines Idee gewesen, ihnen zu vertrauen, dabei war es die von Candice und später auch die von mir.

Was aber noch immer keinen Sinn ergibt, ist Josephines Freilassung. Warum hat ihr Mary geholfen?

»Na los«, ertönt die markerschütternde Stimme von Mary, »ihr könnt euch ruhig nach oben trauen. Wir beißen nicht. Wir töten nur.« Sie lacht, als hätte sie einen furchtbar lustigen Witz gerissen.

Ein zustimmendes Raunen geht durch eine Reihe von Menschen, die ich noch nicht sehen kann.

Langsam und unsicher beginnt Josephine, eine weitere Stufe nach oben zu nehmen. Die Stufe quietscht verdächtig laut. Josephines Knie schlottern unkontrolliert wie Hosenbeine im Wind. Und dann nimmt sie noch eine Stufe. Ich kann ihre Angst förmlich fühlen.

Ich bin die Letzte, die einen Blick in den Raum erhascht, in dem wir uns befinden. Ich kann es nicht fassen, nicht glauben. Wir befinden uns mitten im Herz des Moshannon Manor.

Sie hätten Mary und Liam wohl doch lieber nicht vertraut. Manchmal ist es eben doch besser, seinem schlechten Gefühl Beachtung zu schenken. Was sagt ihr zu der Entwicklung?

Greyforks | Staffel 2 || SerieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt