»Schnell, knipsen wir ein paar Fotos und machen uns dann vom Acker, bevor er uns entdeckt«, meint Jo mit zittriger Stimme.
»Ich werde ihn zur Rede stellen«, murmle ich mehr zu mir selbst, »das ist die einzige Möglichkeit, um herauszufinden, wer er ist.«
»Candice, das kannst du doch nicht«, versucht Kate mich zur Vernunft zu bringen, doch ich laufe einfach mitten in ihrer Rede auf das Grab meiner Mutter zu.
»Hey!«, brülle ich unerschrocken. »Hey, wer sind Sie?«
Im nächsten Moment trifft mich der Blick des Mannes wie der Schuss eines Jägergewehrs. Unsicher, ob er verschwinden soll, weicht er etwas von mir zurück.
Doch ich habe ihn schnell eingeholt und stehe schon im nächsten Augenblick direkt vor ihm. Er ist groß, von normaler bis kräftiger Statur und hat dunkles Haar.
Auch Kate ist neugierig und schreitet hinter mir auf uns beide zu. Weil sie jedoch merkt, dass Josephine zögerlich hinter der Trauerweide in Deckung geht, packt sie Jo an der Hand und zieht sie mit sich.
»Sie kennen meine Mutter, habe ich recht?«, vernehme ich die aufgebrachte Stimme von mir, die in diesem Moment wie die einer fremden Person klingt.
»Was geht dich das an?«, schnauzt der Mann verärgert und mustert mich angestrengt, dann jedoch weicht sein verwirrt wütender Ausdruck plötzlich völliger Schockstarre. Er schnappt gierig nach Luft. »Du bist ihre Tochter, hab ich recht?«
Ich stemme meine Hände in die Hüften. »Die bin ich. Woher kennen Sie mich?«
»Du...du hast ihre Augen.« Auch wenn ich in diesem Augenblick am liebsten davonrennen würde, so muss ich doch in seine Augen blicken, die in diesem Moment tatsächlich etwas glasig werden.
»Ja, ich weiß«, entgegne ich betont unsensibel, um mich von der Situation zu distanzieren »aber was, verdammt, machen Sie am Grab meiner Mutter?«
»Deine Mutter war«, er sucht nach den richtigen Worten, »sie war eine gute Freundin von mir.«
»Und warum weiß ich dann nichts von Ihnen? Warum hat sie Sie mit keinem Wort je erwähnt?«, hake ich im strengen Ton nach. Ich habe meine Hände fordernd in die Hüften gestemmt.
»Candice, ich denke, das sollten wir nicht an einem so friedlichen Ort wie diesem hier besprechen.« Er deutet auf eine alte Frau, die in etwas Entfernung an einem Grab steht und betet.
»Gut, wenn Sie mir Antworten auf meine Fragen geben, gehe ich auch gern woanders hin.«
●●●
»Einen Zitronen-Eistee, bitte«, ordere ich bei Dare, der bereits die Getränke von Kate und dem Mann aufgenommen hat.
Dare hebt kurz verwundert die Augenbraue, weil ich sonst immer einen Pfirsicheistee nehme, fragt dann aber doch nicht nach, weil er merkt, dass es gerade unpassend ist.
Josephine ist bereits in der Schule, weil sie einen wichtigen Test in der dritten Stunde hat.
Ich bin mir selbst nicht sicher, ob Kate mitkommt, weil ich ihr wichtig bin, oder ob sie einfach nur dem monotonen Unterricht entkommen will.
»Sie kannten also meine Mutter«, beginne ich, als Dare weit genug entfernt ist.
Der Mann, vermutlich Ende vierzig, nickt. Er hat schwarzes Haar, das für sein Alter noch ziemlich dicht wirkt. Seine Nase ist schmal, aber nicht zu groß.
»Sag ruhig Daniel zu mir«, meint er dann und versucht sich an einem Lächeln.
Das klingt zwar nett, jedoch werde ich das Gefühl nicht los, dass er meinen Fragen ausweichen will. »Also gut, Daniel, in welchem Verhältnis standen Sie, äh standst du, zu meiner Mutter?«, frage ich und stelle fest, dass ich dem Drang nicht widerstehen kann, diese fremde Person zu siezen. Ich habe Angst vor der Antwort, aber jetzt ist die Zeit für Antworten gekommen. Ich brauche diese Antworten so dringend.
Daniel kratzt sich am Kinn, das mit seinem gepflegten Dreitagebart bedeckt ist und überlegt sich vermutlich, wie er das Folgende am besten ausdrücken soll.
Die Wut packt mich, als er nach einer geschlagenen Minute noch immer kein Wort hervorgebracht hat, genau in diesem Moment kommt Dare an den Tisch und stellt die Cola Light vor Kate hin, den Zitronen-Eistee vor mich und den Eistee mit Pfirsichgeschmack vor Daniel.
Es wurmt mich, dass er mein übliches Getränk bestellt hat, ohne zu wissen, dass es mein Lieblingsgetränk ist.
Daniel nippt an seinem Getränk und starrt verloren in die Pfirsichfarbene Flüssigkeit, in der klare Eiswürfel schwimmen.
»Komm, gehen wir, Kate, er wird es mir nie sagen«, presse ich schließlich frustriert hervor und muss mich zusammenreißen, um keine Szene zu machen.
Als Kate und ich uns bereits erheben, langt er plötzlich nach meiner Hand.
Erschrocken blicke ich auf seine rechte Hand, die nun auf meiner linken liegt. Schnell ziehe ich sie über den Tisch hinweg zurück.
Seine tiefblauen Augen halten mich gefangen. »Bitte geh nicht!«
Ich kann nicht sagen, warum, aber ich muss mich in diesem Moment einfach wieder gegenüber von ihm hinsetzen. Er hat was unfassbar Beruhigendes an sich.
»Candice ich will es dir sagen«, meint er mit seiner warmen dunklen Stimme, »aber es ist so verdammt schwierig.«
»Warum?«, kommt es verzweifelt aus meinem Mund.
»Weil du unter Umständen anders von deiner Mutter denken könntest.« Sein Ausdruck ist voller Mitgefühl.
»Aber ich will die Wahrheit!«, verlange ich dürstend, auch wenn ich mir dessen im nächsten Moment gar nicht mehr so sicher bin.
»Aber bevor ich dir diese Sache sage, möchte ich, dass du weißt, dass deine Mutter ein wunderbarer Mensch war.« Er sieht mir mit einem warmen Lächeln entgegen, aber seine Worte gefallen mir überhaupt nicht.
»Das weiß ich selbst«, entgegne ich etwas trotzig.
»Deine Mutter...deine Mutter und ich, wir waren zusammen.« Ich kann sehen, wie sich sein Adamsapfel kurz darauf einmal auf und ab bewegt.
Eine riesige Schockwelle durchflutet meinen gesamten Körper. Mit aller Kraft versuche ich mich zu fangen und gegen den aufkommenden Schwindel zu wehren. »Wann?«, bringe ich schließlich schluckend hervor, obwohl ich mir meine eigentliche Frage selbst beantworten kann.
»Eine sehr lange Zeit.« Daniel seufzt.
»Was soll das heißen?!«, fauche ich wütender als beabsichtigt.
»Dass deine Mutter, deinen Vater mit mir betrogen hat.« Er sagt das viel zu schlicht. Viel zu bedeutungslos.
Unglaubliche Wut steigt in mir hoch. Wie kann er nur? Wie kann er eines Tages am Grab meiner Mutter stehen und mir einfach so eine Lügengeschichte auftischen?
»Sie lügen doch!«, schnauze ich und stürme aus dem Lokal. Womöglich ist Daniel noch nicht einmal sein richtiger Name.
»Candice!«, höre ich den Ruf von Kate, als ich in die windige Kälte hinaustrete.
Einzelne Regentropfen peitschen mir bereits mit der Wucht kleiner Kieselsteine ins Gesicht.
»Candice!«, höre ich Kate abermals rufen.
Aber ich beginne zu laufen. Ich laufe einfach weiter und weiter. Vorgärten ziehen verschwommen an mir vorbei. Ich vernehme nur noch das knirschen meiner Turnschuhe und meinen eigenen Atem.
Soll Kate doch nach mir rufen! Und auch wenn die ganze Welt untergehen würde, wäre mir das in diesem Augenblick völlig gleichgültig. Ich werde erst aufhören zu laufen, wenn die Erde wieder beginnt, sich zu drehen.
Hier das verspätete Kapitel vom Mittwoch. Hab gestern zwar noch ein Kaptitel geschrieben, dann aber ganz vergessen, dass ich noch updaten wollte 🙈 Das Donnerstagskapitel erscheint heute natürlich zusätzlich.
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Greyforks | Staffel 2 || Serie
Misterio / Suspenso*WATTYS 2019 WINNER* Staffel 2 der Wattpad-Serie "Greyforks" ▶︎ Bitte nicht weiterlesen, wenn ihr mit Staffel 1 noch nicht durch seid. ● ● ● Nachdem Josephine von der Polizei abgeführt wurde, versuchen Candice und Kate herauszufinden, wie Eckstein i...