Jaxx muss mich zurück in mein Zimmer getragen haben, denn ich wache in meinem Bett auf. Meine Schulter tut weh und ich reibe sie mit Docs Salbe ein. Fast augenblicklich ebbt der Schmerz ab. Ich gieße mir einen Kaffee ein, dann dusche ich mechanisch und ziehe irgendetwas an. Mir ist langweilig und so gehe ich zum Aufzug, um Bez auf der Krankenstation zu besuchen. Er ist wach und versucht gerade, sich eine Socke anzuziehen. Es gelingt ihm nicht. Nachdem ich ihm eine Weile von der Tür aus zugeschaut habe, betrete ich den Raum und komme ihm zur Hilfe. „Ich glaube, ich kann das besser." Vorsichtig ziehe ich den Strumpf über seinen Fuß. Er seufzt. „Danke, Prinzessin. Ich wollte gerade abhauen, langsam habe ich keine Lust mehr. Hier gibt es nichts zu tun." Er grinst mich an. Ich ziehe ihm noch den Schuh an. „Komm doch mit." Er steht auf und unterdrückt ein stöhnen. „Sicher, dass du gehen willst?" Er nickt entschlossen. „Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt." Ich stütze ihn, während er auf den Ausgang zuhumpelt. „Kennst du schon unsere Küche?" Ich schüttle den Kopf. „Wir haben hier den besten Koch, den es gibt. Alfonso kann sogar Eis machen." Er grinst. „Oh, Eis durfte ich bisher nicht essen. Thekla hat es verboten." „Ein Leben ohne Eiscreme? Sag mir, dass das nicht dein Ernst ist." Ich nicke. „Kein bisschen." „Dann ist es an der Zeit, einiges aufzuholen." Er geht schneller und drückt auf einen Knopf im Aufzug. Im neunten Stockwerk geht die Tür wieder auf. Wir steuern auf eine große Holztür zu, die sperrangelweit offen steht. Von draußen kann man schon viele Stimmen hören, die alle in Italienisch durcheinander reden. Wir betreten den großen Raum. Es würde mich nicht wundern, wenn man sich hier verlaufen würde. Es gibt geschätzt hundert verschiedene Herdplatten und mindestens genau so viele Menschen. Na ja, vielleicht auch nur zwanzig. Aber es kommt einem wie hundert vor. Vorsichtig schlängeln wir uns zwischen heißen Töpfen und lauten Stimmen hindurch, bis wir am anderen Ende des Raumes vor einer silbernen Arbeitsplatte stehen, neben der eine riesige, ebenfalls silberne Eismaschine steht. „Was ist dein Lieblingseis?" Bez schaut sich suchend um. Ich muss einen Augenblick überlegen. „Minze, glaube ich." Bez nickt und geht auf einen riesigen Kühlschrank zu, auf den mit Edding riesengroß 'Eis' geschrieben steht. Schwungvoll öffnet er eine Tür und kommt nach zwei Minuten mit allerlei Schüsseln und Krügen zurück. „Kipp das mal in einen Topf." Er deutet auf vier der Krüge. Ich suche mir eine große Schüssel und schütte alles nacheinander hinein. Dann helfe ich Bez, die Minze zu zerrupfen. Er humpelt mit einem Stabmixer zu mir zurück und hält ihn in das Sahnegemisch. Nachdem er eine Weile darin herumgerührt hat, färbt sich die Suppe allmählich grün. „Schau mal, ob zu Lebensmittelfarbe findest." Ich drehe mich um und öffne das erstbeste Regal, das ich finden kann. Nur Gewürze. Im nächsten Schrank werde ich fündig: Sauber nebeneinander aufgereiht stehen da ein paar kleine Fläschchen mit Farbbeschriftungen. „Welche Farbe soll es denn sein?" Ich drehe mich zu Bez herum. „Egal. Such dir eine aus, die niemand mag." Ich entscheide mich für rot. Mit der Farbe in der Hand gehe ich zurück zu der Schüssel. „Wie viel soll rein?" „Reichlich, kann nur besser werden." Na dann. Ich kippe das Gefäß einmal um und der komplette Inhalt leert sich aus. Sofort wird das Gemisch blutrot. „Ich glaube, dass uns das keiner wegisst." Ich helfe ihm, die Schüssel hochzuheben und den Inhalt in den Trichter der Eismaschine zu kippen. „Was muss man drücken?" Bez zuckt die Schultern und beginnt willkürlich, auf den Knöpfen rumzudrücken. Es piepst und ein tiefer Brummton setzt ein. „Das ist glaube ich richtig. Das kann jetzt zwei Stunden dauern oder so. Gehen wir so lange in die Sporthalle?" Da ich eh nichts zu tun habe, nicke ich. Wir schlendern den sonnendurchfluteten Gang entlang und Bez beginnt zu pfeifen. „Wie stark bist du eigentlich?" „Wieso das? Keine Ahnung." „Kannst du mich tragen?" Ich mustere ihn zweifelnd. „Keine Ahnung." Er grinst mich an. „Vergiss es! Ich werde dich nicht tragen!" Er sieht enttäuscht aus. „Dann halt nicht." Jetzt grinse ich. „Was machen wir in der Halle?" Er überlegt. „Wir können Messerwerfen lernen. Was anderes fällt mir gerade nicht ein." Das klingt cool. „Mit Küchenmessern oder was?" Er grinst wieder. „Nein, nein, nicht ganz. Wir haben spezielle Messer fürs Werfen." Jetzt bin ich wirklich neugierig. Wir erreichen die Halle und die Tür schwingt auf, sobald Bez in die Kamera schaut, die an der Wand hängt. Er humpelt mir hinterher. Aus seiner Hosentasche friemelt er einen kleinen Schlüssel hervor und reicht ihn mir. „Geh mal zu der Wand da hinten und such das Schloss auf Schulterhöhe." Ich renne los, doch auf den ersten Blick ist kein Schlüsselloch zu erkennen. Als ich schon fast aufgegeben habe, fällt mir eine kleine Unebenheit auf, die nur von der Seite zu sehen ist. Ich stecke den Schlüssel hinein und drehe ihn. Lautlos öffnet sich die Wand und gibt den Blick auf mehrere sehr breite Schubladen frei, die in die Wand eingelassen sind. „Wie kommen die denn da rein?" Bez ist inzwischen bei mir angekommen. „Die sind schon die ganze Zeit da. Ich glaube, das war ursprünglich eine Nische, in der sich das Equipment des Wachpersonals befunden hat." Ich ziehe sie oberste Schublade ein Stück nach vorne. Was ich sehe, ist fast zu abartig, um es wirklich zu glauben. Der komplette Boden ist mit Messern bedeckt. „Wie viele sind das?" Ich schaue Bez erstaunt an. „Etwa zweihundert. Das sind aber nur die Nahkampfmesser. Wir brauchen die Wurfmesser aus der dritten Schublade." Ich öffne sie. Die Messer in dieser Schublade sehen nicht annähernd so interessant aus. Sie bestehen vollständig aus Metall, sind dünn und haben keinen Griff. „Nimm dir ein paar und dann komm mit." Ich greife in die Schublade und nehme fünf Messer heraus. Wenn sie aufeinander liegen, sind sie etwa so breit wie mein Zeigefinger. Ich laufe Bez hinterher. Er führt mich zu einer kahlen Wand und drückt auf einen kleinen Knopf, der nicht zu sehen ist. Augenblicklich erscheinen Zielscheiben, die verschiedenfarbige Ringe besitzen, aus der Decke. „Stell dich neben mich und mach mir alles nach." Ich gehe zu ihm. Er nimmt sich eines der Messer und wiegt es in der Hand. Ich versuche, das nachzumachen. Das klappt. Mit einer schnellen Bewegung wirbelt er die Klinge so herum, dass sie richtig in seiner Hand liegt. Auch das kriege ich noch hin. Nun hebt er einen Arm und holt bis zum Kopf aus. Ohne die Klinge loszulassen, schleudert er seinen Arm kräftig nach vorne, sodass sie sich irgendwie drehend durch die Luft bohrt und in der Zielscheibe stecken bleibt. Ich mache es ihm nach und auch meine Klinge fliegt mit voller Wucht nach vorne und ist nicht mehr zu sehen. „Toll. Eigentlich sollte das ja erst nach ein paar Trockenübungen kommen. Aber wir können trotzdem schauen, wo das gelandet ist. Ich wette, nicht da, wo es hinsollte." Er hält mir die Hand hin und ich schlage ein. Soll er doch verlieren. Er humpelt los und ich renne ihm hinterher. Gehässig lässt er seinen Blick über die Wand schweifen, die die Zielscheiben umgibt. Und gleich darauf runzelt er schon die Stirn. „Mist, Mist, Mist." Ich grinse. Die klinge steckt in der Mitte einer Zielscheibe, und zwar nur ein paar Zenitmeter neben seinem Kopf. Ist ja gerade noch einmal gut gegangen. „Du hast gewonnen", grummelt er. „Was kriege ich eigentlich?" Er überlegt einen Moment. „Doppelte Eisportion." „Klingt gut." Wir gehen wieder zum Ausgangspunkt zurück. „Eigentlich wundert mich das nicht." "Wieso? Ich habe das noch nie gemacht!" „Wirklich nicht? Der Wurf war nämlich perfekt. Klappt das noch mal? Wenn ja, muss ich das Jaxx erzählen." Ich zucke mit den Schultern. Ich hebe ein Messer über die Schulter und versuche, mich zu konzentrieren. Automatisch weiß ich, wie ich meine Handhaltung korrigieren muss, um das Ziel zu treffen. Und tatsächlich, die Klinge landet wieder in der Mitte. Vielleicht habe ich ja so etwas wie ein ungeahntes Talent? Möglich wäre es. Bez hebt die Hände. „Okay, das hat keinen Sinn. Versuch mal, mehrere auf einmal zu werfen. Vielleicht klappt das auch." „Einfach mehrere Messer in die Hand nehmen?" Er nickt. Die drei Messer fühlen sich an, als wären sie extra für meine Hand gemacht. Der kalte Stahl liegt passend in meiner Hand und wartet darauf, durch die Luft geschleudert zu werden. Soll er haben. Mit genau derselben Bewegung wie die letzten Male schleudere ich die Messer von mir. Die beiden Äußeren laden parallel zu der Mittigen in der Zielscheibe. Jetzt klappt Bez die Kinnlade hinunter. Bevor ich ihn aufhalten kann, läuft er los und stellt sich vor die Wand. „Wirf!", fordert er mich auf. „Was ist, wenn ich dich treffe? Du könntest sterben!" „Du triffst mich nicht. Stell dir einfach dein Ziel vor." Ich schließe die Augen und konzentriere mich, wie ich mich noch nie in meinem Leben konzentriert habe. Wenn ich ihn treffe? Nein! Wieso sollte ich? Ich atme aus und lasse das Messer sausen. Mit immer noch geschlossenen Augen warte ich darauf, ein leises Röcheln von Bez zu hören, doch es ist ruhig. „Hattest du wirklich deine Augen geschlossen?", durchbricht Bez die Stille. „Ja." „Dann solltest du jetzt schauen." Ich öffne die Augen und schreie leise auf. Das Messer steckt nur ein paar Zentimeter neben Bez Schläfe. „Falls jemand fragt, du hast dich freiwillig da hin gestellt." Er grinst mich an. „Eigentlich wollte ich eine ganze Trainingseinheit machen, aber das ist überflüssig. Ich glaube, das Eis ist fertig."
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Victory
ActionWas tut man, wenn man entführt wird? Wehrt man sich oder spielt man mit? #1 in Entführung (05.09.2018)