Jaxx weckt mich unsanft. „Wach schon auf, du musst dich umziehen!" Ich schrecke hoch. Er hat bereits etwas Frisches an. „Sieht gut aus." Er grinst. „Für dich haben wir etwas viel Besseres." Oh nein. „Traditionell muss Victorys Berater die Krönungsklamotten aussuchen. Also darfst du dich bei Bez beschweren. Und bei dem Brauch, der bei weiblichen Victorys unweigerlich in Kraft tritt." Er nimmt mich an der Hand und führt mich in das Schlafzimmer. Auf dem Bett liegt ein großer Kleidersack. „Nicht auch noch das." „Ich präsentiere: Dein Krönungskleid. Aber keine Angst, du kannst nach der Zeremonie was anderes anziehen." Er zieht den Reißverschluss auf. Als erstes fällt mir eine kleine Karte ins Auge, die lose auf den Stoff des Kleides gelegt wurde. Ich nehme sie in die Hand und lese laut vor: „Die Farbe schwarz steht für das Böse." Na toll. „Aber nicht nur das. Schwarz reflektiert so weit wie möglich Eleganz und Würde. Das wichtigste Attribut aber ist Macht. Und davon eine Menge." Ich schaue auf. Jaxx grinst. „Scheint, als hätte er alles richtig gemacht." Ich lese weiter." „Silber symbolisiert Wohlstand und Kühle. Zusätzlich bringt man damit den Mond in Verbindung." Klingt nicht so schlecht. „Gold passt leider nicht ganz zum Kleid, musste aber sein. Es steht für Ehre, das Außergewöhnliche, Echtheit und Luxus. Trage den Fummel in Ehre und du musst ihn danach nicht einmal mehr sehen. Deal?" Ich grinse. „Hat er das wirklich selbst geschrieben? Das passt so gar nicht." Jaxx nickt. „Ist seine Aufgabe. Und dem Text entnehme ich, dass das in diesem Kleidersack schwarz-silber-gold ist." Jetzt bin ich doch gespannt. Ich öffne den Reißverschluss ein wenig weiter. Schwarzer Stoff kommt mir entgegen. Und zwar der Schönste, den ich je gesehen habe. Vorsichtig taste ich nach dem Kleiderbügel und nehme ihn aus der Hülle. Das Kleid kommt hinterher. Es hat einen riesigen Rock und besteht aus mindestens zehntausend Metern Stoff. Das Kleid ist trägerlos, in den Stoff auf dem Bustier sind Silberfäden eingewebt, die das komplette Oberteil wie Adern überziehen. „Wow. Das sieht schön aus." Jaxx nickt und zieht eine Dose aus dem Kleidersack. Vorsichtig öffne ich den Deckel. Darin befindet sich mein Verlobungsring, woher auch immer Bez den hat, sowie eine goldene Kette, passende Ohrringe und mehrere Armreifen. „Wieso sind das vier Ohrringe?" Jaxx verzieht das Gesicht. „Ist dir aufgefallen, dass dein Vater am linken Ohr drei Ohrlöcher hatte?" Ich schüttele den Kopf. „Ich habe ihn ja so gut wie nie gesehen." „Jedenfalls sind diese Ohrringe mehrere hundert Jahre alt. Sie werden von Victory zu Victory weitergereicht und nur bei der Krönung getragen. Da du schon zwei Ohrlöcher hast, bekommst du noch zwei andere Ohrringe. Für die Erbstücke müssen laut Tradition eigene Löcher gestochen werden." Was tut man nicht alles für den Job. Ich folge Jaxx in die Küche, in der Doc schon wartet. Seine Hände stecken in Einmalhandschuhen, die eine Pistole für Ohrlöcher umfassen. „Bitte Platz nehmen." Ich setze mich auf den Hocker, der bereit steht. Jaxx hält mir die Haare hoch. „Drei, zwei..." Er drückt ab. Idiot! Er hätte wenigstens bis eins runterzählen können. „Und noch einmal." Dieses Mal beginnt er erst gar keinen Countdown, sondern drückt direkt ab. „Eigentlich müsstest du jetzt die medizinischen Stecker eine Weile drin behalten, aber das ist jetzt nicht möglich. Geh erst mal duschen." Ich seufze und gehe in das Bad neben dem Wohnzimmer. Jaxx kommt mit und lässt sich auf den Boden plumpsen. „Aufgeregt?" „Nö", antworte ich ehrlich. „Ich habe nur Angst, zur falschen Zeit das Falsche zu sagen." „Das ist fast unmöglich. Diese altmodische Zeremonie wird von unserem Zeremonienmeister geleitet." Ich schaue ihn mit gerunzelter Stirn an. „Wer soll das denn bitte sein?" „Keine Ahnung. Der wird immer am Anfang einer Zeremonie von allen gewählt, die zum Stimmschalter kommen. Wer das einmal war, gibt damit den Rest seines Lebens an. Du bekommst ein paar Fragen gestellt, die in einem alten Buch stehen, musst was unterschreiben, eine Krone aufgesetzt und darfst gehen." Na dann... Ich spüle das Shampoo aus meinen Haaren und steige aus der Dusche. „Also ist das genau genommen nur eine völlig sinnlose Zeitverschwendung ohne festes System." „Grob gesagt, ja." Ich grinse. „Das werde ich, glaube ich, noch überleben." Wir verlassen das Badezimmer wieder, ich bin in ein riesiges Handtuch eingewickelt. Doc hat inzwischen die alten Ohrringe geholt und es sieht so aus, als würde er sie reinigen. Hoffentlich! „Aha, sehr gut. Ich will es nicht verschönern, das wird jetzt saumäßig wehtun." Überflüssige Bemerkung. Er nimmt die eben gestochenen Ohrringe wieder raus und steckt die alten stattdessen hinein. „Was sind das für Steine?" Die Stecker sind nicht sonderlich groß und fallen nicht wirklich auf. In meine normalen Ohrlöcher stecke ich die anderen Stecker. „Das sind Blutdiamanten. Aber keine, die durch schwere körperliche Arbeit geschürft wurden, weshalb der Begriff ein wenig irreführend ist. Mit ihnen wurde der erste Victory umgebracht." Ganz toll. „Wir haben sowieso einige Vorlieben, menschliche Steine zu verwenden." Das habe ich jetzt nicht verstanden. Jaxx hilft mir hoch und bringt mich zurück ins Schlafzimmer. „Wir haben jetzt nur noch ein Problem. Da Thekla und so ziemlich alle Visagisten tot sind, muss ich dir die Haare machen." Das könnte eng werden. „Kannst du das?" „Aber selbstverständlich nicht!" Er schlägt die Fersen zusammen und salutiert. „Skål!" Ich grinse. „Hinsetzten und nicht bewegen." Ich gehorche, aber nichts passiert. Als ich mich umdrehe, steht Jaxx mit zusammengekniffenen Augen da und betrachtet meinen Kopf. Ich hebe an um etwas zu sagen, aber er hebt die Hand. „Künstlerisch-dramaturgische Pause! Kein Wort." Ich grinse und drehe mich wieder um. „Zu Befehl, der Herr." Nach einer Weile beginnt er, in meinen Haaren herumzuwühlen, scheint dabei aber kein Ende zu finden. „Das wird nie im Leben was." Er lässt meinen Zopf wieder los. „Problem. Kennen wir jemanden?" Ich überlege einen Moment. „Vielleicht Fothy?" „Könnte sein. Wo ist der eigentlich?" In diesem Moment klingelt ein Handy, auf dessen vibrierenden Bildschirm ein Foto von Fothy zu sehen ist. Wenn man vom Teufel spricht. Ich kralle mir das Teil und drücke auf grün. „Bonnie am einen Ende. Wer am anderen?" „Clyde, meine Dame. Ich wollte nur sagen, dass wir inzwischen angekommen sind. Wir haben Thekla dabei." „Gut. Fothy, kannst du mir die Haare machen?" Eine kleine Pause entsteht. „Ich kann es probieren, aber ich glaube, das wird nichts." „Weißt du, wo meine Wohnung ist?" „Jap. Ich komme. Bye, Darling." Er legt auf. „Er kommt gleich. Kannst du ihn unten abholen?" Langsam wir die Zeit knapp. Ich habe noch etwa eine Stunde, bin weder geschminkt noch frisiert und trage ein Handtuch. Toller Zeitplan. Aber immerhin an dem Kleid kann ich was ändern. Ich stehe auf und gehe hinter den Paravent. Das Kleid passt wie angegossen. Jede Naht sitzt an der richtigen Stelle. Der Rock ist erstaunlich leicht. Ich stütze mich für einen Moment an einem stillen Diener ab. Eigentlich habe ich keine Ahnung, was nachher passieren wird. Auf jeden Fall bin ich nicht gewappnet. In dieser Sekunde betritt Fothy mit Bez und Jaxx im Schlepptau den Raum und reibt sich geschäftig die Hände. „Na dann immer her mit den ungezähmten Haaren." Er lacht als einziger. Ich komme hinter dem Paravent hervor und allen dreien verschlägt es die Sprache. „Bez, ich glaube, du hast das richtige Kleid ausgesucht." Der wird rot und grinst. „Immer zu Diensten." Ich setze mich vorsichtig auf einen Hocker und die drei Männer versammeln sich um meinen Kopf herum. Was jetzt kommt, ist skurril. Wie ein kleiner, innerer Dialog:
Bez: „Wir könnten..."
Jaxx: „Habe ich auch dran gedacht."
Fothy: „Seid ihr blöd? Viel zu kurz."
Jaxx: „Zweihundert vielleicht?"
Bez: „Zu alt, wir brauchen etwas Neues."
Fothy: „Vielleicht R..."
Jaxx und Bez gleichzeitig „NEIN!"
Fothy: „Ist ja schon gut."
Bez: „Bleibt nur noch..."
Fothy und Jaxx: „Muss wohl."
Hä?
Bez zückt einen Lockenstab, während die anderen mit Bürsten und Klammern herumhantieren. Sieht nicht besonders professionell aus. Aber keine zwanzig Minuten später habe ich tatsächlich eine gute Frisur. Erstaunlich! Ich betrachte sie von allen Seiten, kann aber keine Schwachstelle entdecken. „Das sieht cool aus." Die drei grinsen sich an, als hätten sie im Lotto gewonnen. „Wir müssten dann jetzt auch mal." Bez und Fothy verschwinden, nur Jaxx bleibt noch bei mir. „Du siehst wunderschön aus." Ich küsse ihn. „Wer begleitet mich?" „Bez und ich. Fothy steht schräg hinter dir." Na immerhin. Ich setzte mich wieder hin und beginne, mich dezent zu schminken. „Schwarz." Na dann halt so. Meinen Teint decke ich nur mit etwas Puder ab, ansonsten ist er makellos. Die Augen betone ich mit schwarz, wie Jaxx es gesagt hat. Fothy und Bez kommen zurück. Sie tragen jetzt schwarze Anzüge, Fothy hat zusätzlich noch einen Gehstock in der Hand, der mit Edelsteinen besetzt ist. Irgendetwas sagt mir, dass er den nicht zum Gehen braucht. Jaxx und Bez reichen mir jeweils eine Hand und stützen mich von beiden Seiten, als ich in die hohen Schuhe schlüpfe, die Fothy mir hinstellt. „Fehlt nur noch der restliche Schmuck. Und wir brauchen noch etwas mehr rot. Die Farbe Rot." Fothy bindet mir eine dünne rote Schleife um mein rechtes Handgelenk. Ich schaue Bez fragend an. „Wofür steht das denn?" „Gefahr."
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Victory
ActionWas tut man, wenn man entführt wird? Wehrt man sich oder spielt man mit? #1 in Entführung (05.09.2018)