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Mein Wecker klingelt. Ich drehe mich in meinem Bett herum und versuche, ihn zum Schweigen zu bringen. Doch bevor ich den richtigen Knopf drücken kann, schnappt eine andere Hand mir die nervige Uhr weg. „Aufstehen, Mäuschen", säuselt Jaxx in mein Ohr und verschwindet mit dem Wecker aus meinem Zimmer, bevor ich etwas nach ihm werfen kann. Wenn ihr denkt, dass Jaxx mein Freund, mein Mann oder Ähnliches ist, muss ich euch leider enttäuschen. Jaxx ist seit frühester Kindheit mein Leibwächter und gleichzeitig mein bester Freund.

Ich fluche, wühle mich aber dann doch aus der warmen Decke heraus. Sonnenschein kitzelt mich an der Nase, als ich an der Glaswand meines Zimmers vorbeigehe, durch die man die Küste Floridas sehen kann. „Kommst du langsam, oder muss ich diese leckeren Cornflakes ohne dich essen?", ruft es aus der Küche. „Komme schon", schreie ich zurück und renne los. Obwohl ich weiß, dass er Cornflakes hasst, will ich sicher gehen, dass er sie mir nicht wegisst. Schnaufend komme ich in der Küche an und lasse mich auf einen der Barhocker fallen. „Geht doch", lacht Jaxx und schiebt mir eine Schüssel zu. Ich beginne zu essen. „Was habe ich heute zu tun?" „Also zuerst musst du natürlich in die Schule gehen." Ich verdrehe die Augen. „Das habe ich gesehen. Und ich wünsche, dass du auch im Unterricht erscheinst und nicht wieder den ganzen Tag in der Cafeteria sitzt", fügt er mit Nachdruck hinzu. „Danach hole ich dich ab, bringe dich zu Thekla und fahre dich dann zu deinem Dad ins Büro, wo du bei einem Treffen mit einem Kunden dabei sein wirst." Ich seufze. Das klingt nach einem gewöhnlichen Tag. Erst in der Schule vor Langeweile sterben, dann von Thekla belehrt werden und auch noch stundenlang eine andere Sprache sprechen... Der Appetit ist mir vergangen und ich lasse den Löffel sinken. „Komm schon, Sonnenschein, so schlimm kann es nicht sein", versucht Jaxx mich aufzumuntern. Ich schaue ihn finster an. Er kann immerhin machen was er will, solange ich in der Schule bin. „Gehe mich anziehen", sage ich über die Schulter, als ich die Küche verlasse.

Mein Kleiderschrank ist auf ausdrücklichen Wunsch meiner Stylistin Thekla hin fast doppelt so groß wie mein Schlafzimmer. Er ist vollgestopft bis in die hinterste Ecke und der Inhalt wird jedes halbe Jahr vollständig ausgetauscht, um der Zeit nicht hinterher zu hängen. Er ist ein Traum jedes Mädchens, auf Deutsch: meine persönliche Hölle. Wie immer liegt das Outfit für diesen Schultag auf dem großen Sessel in der Mitte des Raumes. Ich verdrehe die Augen und ziehe die Doppeltür des Zimmers hinter mir zu. Mit spitzen Fingern hebe ich den Rock hoch und mustere ihn skeptisch. Viel verdeckt der sicherlich nicht. Da ich aber nicht erst seit gestern mit Thekla zusammenarbeite, weiß ich, dass Widerspruch absolute Verschwendung von Atemluft ist. Vorsichtig ziehe ich mir die dünne, durchsichtige Strumpfhose an, das Oberteil und der Rock folgen. In Gedanken versuche ich, den heutigen Tag positiv zu sehen, aber es geling einfach nicht. Die Schule ist für mich reine Zeitverschwendung. Alles, was ich wissen muss, habe ich bereits gelernt. Und noch Einiges mehr. Ich könnte schon jetzt einfach den ganzen Tag arbeiten. Schnell schlüpfe ich in ein paar unbequemer High Heels und beginne damit, meine Schulsachen in eine Tasche zu stopfen, was länger dauert als erwartet. Mit gezwungener Maßen etwas schnelleren Schritten gehe ich auf die Haustür zu und schließe sie hinter mir. Auf dem Weg vor dem Haus steht ein schwarze Limousine, von deren Fahrersitz aus Jaxx mir hektisch zuwinkt. „Wieso brauchst du auch so lange, um dir diese Fetzen anzuziehen?", fragt Jaxx, als er das Lenkrad herumreißt und viel zu schnell um eine Kurve fährt. Wir sind tatsächlich spät dran. „Das ging schnell. Aber woher soll ich wissen, wo sich meine Englischsachen befinden? Die sind seit gestern verschollen", antworte ich gereizt vom Rücksitz der Limousine, gerade bei dem Versuch, meinen Rock wenigstens etwas näher an meine Knie zu ziehen. „Es muss doch möglich sein, einmal im Leben etwas wie eine Jeans mit Pulli in die Schule anziehen zu dürfen". Ich fluche leise. „Wir sind da, Sonnenschein", höre ich von vorne. Irgendwie entflutscht mir ein melancholischer Seufzer und Jaxx schaut mich im Rückspiegel fast mitleidig an. Ich steige aus dem Auto aus, das wie immer schnurgerade direkt vor dem Eingang der Schule steht. Jaxx deutet mir vom Fahrersitz aus an, meine Sonnenbrille aufzusetzen. Ich lächle ihn zuckersüß an, drehe mich um und laufe auf Lara, meine beste Freundin, zu. Dabei stecke ich mir die Fendi-Sonnenbrille auf die Nase. „Morgen, La", begrüße ich sie. „Morgen, Einstein. Na, da hat Thekla dir mal wieder was ganz feines rausgesucht", lächelt sie und mustert kichernd meinen hautengen Rock und das Oberteil. „Was Niedrigeres hat sie wohl nicht gefunden?", fragt sie und mustert skeptisch meine 13-cm-Schuhe. „Was denkst du?", antworte ich, hake mich bei ihr ein und marschiere mit ihr auf den Haupteingang der Schule zu.

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