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„Wir sollten auf den richtigen Zeitpunkt warten. Gerade hat sie sich ziemlich beliebt gemacht. Du kennst das doch: Brot und Spiele." Leise Stimmen wecken mich aus meinem angenehmen Halbschlaf. Ich will mich schon aufrichten um mich zu der Stimme zu begeben, halte aber zum Glück noch einen Moment inne. In der Nähe der Tür zum Dach beziehungsweise meinem einzigen Fluchtweg stehen zwei Männer, die sich leise und schnell zu unterhalten scheinen. Beide sehen aufgebracht aus und gestikulieren wild mit den Armen herum. Einer hat noch ein Handy in der Hand, das er sich gegen seine fleischige Backe drückt. Das Gesicht des anderen kann ich nicht sehen, er schaut in eine andere Richtung. Doch seine Silhouette kommt mir unwahrscheinlich bekannt vor. Dreh dich um, dreh dich um!, denke ich und spitze die Ohren. Der Dicke flüstert nun noch etwas aufgebrachter in sein Telefon, der andere geht ungeduldig auf und ab. „Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit", zischt er. Der Dicke winkt ab und dreht sich genervt weg. Wieder unentschlossenes Hin- und Herlaufen. Von meiner Position aus kann ich zu wenig erkennen, als dass ich genau hätte sagen können, wie die beiden aussehen. Eine heftige Windböe drückt mich gegen die Helikufen. Leise versuche ich, mich wieder aufzusetzen, komme aber nicht wirklich weit. Der Mann ohne Telefon dreht sich so, dass ich sein Gesicht sehen kann. Sein Anblick trifft mich wie einen Schlag ins Gesicht. Jaxx!

Also habe ich mich damals doch nicht in ihm getäuscht, als er mich entführt hat. Er ist kalt und berechnend. Und anscheinend ist er nicht auf meiner Seite. Und ich habe mit diesem Schwein ein Bett geteilt! Ich könnte mir selber mit einer Bratpfanne gegen den Kopf hauen, so dämlich komme ich mir vor. Er geht wieder auf den Dicken zu, der mir auf den zweiten Blick auch bekannt vorkommt, aber wahrscheinlich würde ich in meiner Verfassung in jedem Penner einen Bekannten erkennen. Um nicht loszuschreien beiße ich mir in die Hand bis es blutet. „Wir müssen sie irgendwie beseitigen", sagt der Dicke. „Bevor sie richtig anfängt, Ärger zu machen. Das können wir gerade gar nicht gebrauchen. Und wenn die Chefin sauer wird, rollen Köpfe." Bedeutungsschwer nickt er mit dem Kopf in Jaxx Richtung. Der nickt. „Sehe ich auch so. Wir wissen jetzt, dass ihre große Krönungsfeier in zwei Wochen stattfindet. Einen genauen Gebäude - und Zeitplan bekomme ich in den nächsten Tagen zu sehen. Ich schicke sie dir sofort zu. Wir dürfen nicht zulassen, dass es wieder einen Victory gibt." Den letzten Satz sagt er eher zu sich selbst als zu dem Dicken. Wieder nickt der bedeutungsschwer. Zusammen gehen sie auf die einzige Tür zu, die von hier aus ins Gebäude führt. Wie wollen die beiden da ungesehen wieder rauskommen? Also Jaxx zählt ja dazu, aber der Dicke? Ich will mich bewegen, will den beiden folgen, aber ich kann mich nicht rühren. Nach einer viertel Minute habe ich mich wieder unter Kontrolle. Mein Puls ist so niedrig wie normalerweise auch. Geduckt gehe ich auf die Tür zu und öffne sie geräuschlos. Der Gang dahinter ist natürlich leer. Wäre auch schlecht, wenn nicht, da es nur kahle Betonwände ohne eine Versteckmöglichkeit gibt. Weiter vorne höre ich eine Stimme. Ich pirsche mich weiter heran. Die beiden sind stehen geblieben und gestikulieren dezent. „Wir können nicht so lange warten. Wenn wir uns zu viel Zeit lassen, kann das Ganze ungeahnte Ausmaße annehmen, Lio." Der Dicke tippt Jaxx auf die Brust. Lio? Der Name klingt ja wie ein Schreibfehler! Aber das passt zu ihm. Ein riesengroßer Fehler mit Muckis. Bevor die beiden mich entdecken können, biege ich in den einzigen Gang ab, der sich mir bietet, aber natürlich endet er in einer verschlossenen Tür mit Fingersensor. War ja klar, dass mir so etwas passiert. Probehalber presse ich meinen Zeigefinger auf das Glas und zu meinem Erstaunen schwingt die Tür auf. Ach ja, als Victory habe ich ja überall Zutritt. Ich betrete den Raum, von dessen Existenz ich bisher nicht einmal wusste. Seine Größe überrascht mich. Lichter gehen flackernd an und erleuchten eine riesengroße Halle. Von meinem Standpunkt aus kann ich ihr Ende nicht sehen. Ich verstehe die Architektur der Baze beim besten Willen einfach nicht. Eigentlich dürfte in der Dachebene nur meine Wohnung, die Garage und der Flugplatz zu finden sein. Aber das interessiert mich gerade herzlich wenig. Denn die komplette Halle ist mit Reihen von riesigen Metallregalen vollgestellt, die bis unter die Decke reichen. Und jedes dieser Regale ist vollgestopft mit Waffen. So viele Waffen hatten wir noch nicht einmal bei Stoneforth Inc. im Lager. Ich bezweifle, dass wir überhaupt jemals so viele Waffen hergestellt haben! Staunend gehe ich die einzelnen Reihen entlang. In einem Regal befinden sich Unmengen von Handgranaten und anderen kompakten Sprengstoffen säuberlich aufgereiht. Im nächsten kann ich getarnte Waffen sehen, die auf Paletten gestapelt die Regalbretter zieren. Vorsichtig ziehe ich eine heraus. Es ist ein kleines Plastiktütchen mit drei goldenen Ringen, die augenscheinlich mit Diamanten besetzt sind. Aber beim besten Willen kann ich mir nicht vorstellen, dass man damit jemanden erschießen kann. Ich pople mit meinem Finger ein kleines Loch in das Plastik und ziehe die kleinen Teile heraus. Alle passen sie wie angegossen auf meine Finger. Sicherheitshalber behalte ich sie gleich an. Die Tüte stecke ich in meine Hosentasche. Langsam gehe ich weiter. In der nächsten Regalreihe befinden sich Unmengen von Pistolen, die kleinsten könnte ich problemlos in meine Hosentasche stecken, die größten könnte ich bequem als Garderobenständer verwenden. Ich stecke mir eine Waffe in den Hosenbund und ziehe mein Shirt darüber. Es ist immer besser, sich verteidigen zu können. Und in diesem Moment habe ich leider keine Ahnung, wo ich mich befinde und weiß dem entsprechend auch nicht, wo sich mein persönliches Waffenarsenal befindet. Aus einem plötzlichen Verlangen heraus renne ich los. Nach einer Minute erreiche ich das Ende der Halle. Mein Rücken pocht dumpf aber ich fühle mich irgendwie befreit. Kaum habe ich die kalte Betonwand erreicht, drehe ich mich auch schon wieder um und renne zurück. Als ich die Tür schon sehen kann, tönt eine Stimme in meinem Ohr und ich schrecke unweigerlich zusammen. „Victory, wo bist du? Geht es dir gut?" Bernie klingt ein wenig beunruhigt. Ach ja, ich habe ja Mikrofone in den Ohren. „Ja. Hab mich nur mal wieder verlaufen." Irgendwie ist es peinlich, das auszusprechen. Im Stillen beschließe ich, niemandem von meiner Entdeckung bezüglich Jaxx zu erzählen. Ich habe nämlich nicht die geringste Ahnung, wer noch mit ihm zusammen arbeitet. Ich öffne die Tür und trete auf den menschenleeren Gang hinaus. „Warte kurz, ich such dich auf den Monitoren." Ich höre, wie Bernie etwas in eine Tastatur eingibt. Das Geräusch der Tasten ist mir schmerzhaft vertraut und erinnert mich an die Zeit, in der ich noch bei Stoneforth gearbeitet habe. Als es noch keine Mafia und Intrigen in meiner Familie gab. „Übrigens sind deine Spiele ein voller Erfolg. Ich glaube, du wirst die beste Victory, die wir jemals hatten. Niemals war jemand vor dir so beliebt." Ich muss lächeln. „Ich habe dich gefunden, du stehst neben dem großen Waffenlager. Wie auch immer du da hingekommen bist." „Sind das alle Waffen die ihr habt?" Vielleicht antwortet er mir. In der jetzigen Situation kommt er mir am loyalsten vor. „Nein, wir haben noch viel mehr Waffen. In diesem Gebäude sind das alle Waffen, die gelagert sind. Natürlich haben die meisten Pistolen bei sich und in ihren Wohnungen." „Gibt es noch mehr Gebäude?" Wenn ja, wusste ich das gar nicht." „Wir haben in fast jedem Land Stützpunkte, die uns unter anderem mit Informationen versorgen und Aufgaben im Ausland übernehmen. Jeder dieser Stützpunkte hat natürlich auch Waffenlager. Du musst geradeaus gehen." Bernie lotst mich zu meinem Fahrstuhl. Komplett geplättet stolpere ich in die Kabine und fahre hoch. Mit dem vertrauten Pling öffnen sich die Türen wieder. Ich gehe in die Küche und gieße mir ein Glas Wasser ein. „Wusste gar nicht, dass du schon da bist." Vor Schreck lasse ich beinahe das Glas fallen. Ich drehe mich um. Jaxx lehnt in der Küchentür. Ich schaue ihm ins Gesicht. Böser Fehler. Schon kann ich gar nicht mehr glauben, dass er gegen mich eine Intrige ausheckt. Und leider vergesse ich es tatsächlich. Ich gehe auf ihn zu und schlinge die Arme um ihn. Er streichelt mir über den Rücken und hält mich fest. In seinen Armen fühle ich mich sicher und geborgen und irgendwie zu Hause. „Wie war dein Tag?" Ich schaue zu ihm hoch. „Hab gespielt." Er lächelt. „Ich glaube, du bist seit gerade eben die beliebteste Chefin, die wir jemals hatten." Ich verziehe zweifelnd die Augenbrauen. „Glaube ich nicht." „Doch, doch. Ich habe in meinen Ohren auch Mikrofone. Und wenn du hören würdest, was ich gerade höre, würdest du rot anlaufen und im Boden versinken wollen. Sie verehren dich." „Ich habe doch bisher gar nichts bewegt..." Ich versuche mich an irgendetwas zu erinnern, aber in meinem Kopf herrscht gähnende Leere. „Sagen wir es mal so: Die letzten Victorys haben schon vor Antritt ihres Amtes Angst und Schrecken unter ihrer Bevölkerung verbreitet. Sie haben jedes kleinste Vergehen geahndet und das nicht zu knapp. Der wohl bekannteste Mafiosi, Al Capone, wurde an seinem fünfzehnten Geburtstag vom damaligen Victory schwer verletzt. Er ist nur knapp dem Tod entgangen. Und das nur, weil er angeblich Munition verschwendet hat, als er zielen geübt hat." Okay, im Gegensatz dazu bin ich eine echte Heilige. „Du zählst jetzt schon als Königin des Volkes. Du kooperierst mit uns, was nicht selbstverständlich ist. Und du nimmst uns ernst." Ich kann nicht mehr mit anhören, wie er mich in die Wolken hebt. „Wir werden ja sehen, was ihr davon habt." Ich grinse ihn an und küsse ihn. Nach wie vor weiß ich nicht mehr, was ich eigentlich wollte. Er schmeckt nach Zigaretten und Zitrone. Und irgendwie nach mehr. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie, aber wir landen in meinem Bett.


VictoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt