Pretend it's home

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Bis Candela ihr Zimmer erreicht hatte, war das Blut auf ihrem Kinn schon getrocknet. Das einfallende Sonnenlicht zeigte den Tanz der Staubpartikel in der Luft, der Raum war genauso wie sie ihn verlassen hatte - genau so, bis auf den Stapel Blätter, der von jemandem auf ihrem Tisch feinsäuberlich abgelegt worden war.
Mit wenigen Schritten überquerte sie den abgetragenen lilanen Teppich und griff nach dem obersten Stück Papier.

Steckbrief, Pläne, gewöhnliche Routen.
Candela drehte den letzten Zettel um und entdeckte eine Balleinladung. Eine Adresse in der inneren Stadt - dort, wo die vom Leben begünstigten ihr Dasein verbrachten.

Die Ladyschaft hielt sich nicht lange auf. Ein zufriedenes Lächeln spielte auf ihren Lippen - gut. Einer der jüngeren Infector hatte diese Informationen wahrscheinlich zusammengetragen.

Sie glitt in ihren Schreibtischstuhl und nahm das erste Blatt wieder zur Hand.
Name: Azar Fenwick
Azar Fenwick.....- Fenwick....
Der Name ließ etwas bei ihr Klingeln.
Vielleicht jemand der sich in der Unterwelt einen Namen gemacht hatte?
Candela runzelte die Stirn.
Nein, er gehörte zur gehobene Gesellschaft. Seine Eltern waren ziemlich reich, wenn sie sich recht erinnerte.
War gut möglich, dass ihm jemand des Geldes wegen an den Kragen wollte.
Obwohl, sie hatte Gerüchte gehört, dass seine Gabe außergewöhnlich ausgeprägt war.
Sie würde doch ein wenig vorsichtig sein müssen.
Auch wenn ein verwöhntes Adelssöhnchen, das - sie linste auf das Papier - etwa in ihrem Alter war, sicher nicht viel Ärger machen würde. Und wenn ihr Blick versagte, gab es immer noch guten alten Stahl.

Sie scannte noch die restlichen Seiten - seine Adresse war die gleiche wie auf der Einladung - interessant, studierte seine Beschreibung - schwarze Haare, graue Augen - was sie allerdings mit der Aussage ansprechendes Aussehen anfangen sollte, wusste sie nicht. Außer, dass klar wurde, dass er ziemlich sicher von einer weiblichen Person beobachtet worden war.

Candela streckte die Arme über ihren Kopf.
Ihr Blick viel auf die Karte, die an der Wand über dem Tisch hing.
Sie war alt, vergilbt, aber raffiniert gezeichnet.
Can besaß sie schon seitdem sie denken konnte - ihr Herkunftsort war irgendwann im Treibsand ihres Gedächtnisses untergegangen.

Die Landkarte zeigte den Kontinent, vom flussdurchzogenen Auvistan, über die Wüstengegenden Masolaires, bis hin zum, auf der einen Seite durch ein Bergmassiv und auf der anderen durch einen breiten Strand begrenzten, Parvarta. Ein Land von unbezähmbarer Wildnis und ebenso unbeugsamen Menschen. Das war es zumindest, bis Nazars derzeitiger Regent die Königsfamilie stürzte und den Großteil der Bevölkerung abschlachtete.
Genau wie alle andernen Herrscher waren auch die in Parvarta - so erzählten es die Legenden - vor langer Zeit mit magischen Gaben beschenkt worden.
Die Familie hier mit dem todbringenden Blick, Masolaires royaler Hof wurde Herr über die Lüfte und Auvistans Leute konnten seitdem alles Wasser beeinflussen.
Was Parvarta anging - Eisfeuer sah man heute nur noch selten
Isoliert durch die Felsbarriere hatten sich Parvartas Einwohner nur vereinzelt woanders niedergelassen - und die Massenabschlachtungen hatten auch nicht gerade geholfen.
Wenn man heute öffentlich mit jenem Feuer spielte, garantierte das einem meist eine Eintrittskarte in den Kerker.
Sowieso gab es nur noch wenige, die diese Gabe noch beherrschten.

Kurze Zeit später stürmte Candela, in schwarzer Kampfmontour und mit zusammengebunden Haaren, einen der Innenhöfe.
Im hellen Schein der Sonne waren schon einige Infector mit Waffen beziehungsweise Sparringpartnern beschäftigt.
Finn winkte aus einer Ecke zu ihr hinüber.
Andere nahmen ihr Erscheinen nicht so gut auf, verzogen sich in entlegenere Winkel oder verschwanden gleich ganz von der Bildfläche. Doch die abschätzigen Blicke und gehissten Worte - die man mit besten Willen als unfreundlich bezeichnen konnte, waren vergessen, in der Sekunde, in der sie den Blick über den Waffenständer gleiten ließ.
Dolche, Schwerter, Messer, Degen und so weiter, alle glänzten frisch poliert in der Sonne.
Wäre schön, wenn sie heute mal wieder Zeit hätte - "Stopp!"
Ein Junge drehte sich zu ihr um. Sein hellblonder Schopf fiel ihm ins Gesicht, welches noch deutlich kindliche Züge zeigte - er konnte nicht älter als zehn sein.
"Du machst es falsch, beweg dich in zwei Zügen nicht in drei."
Candela hatte die Entfernung inzwischen überbrückt und stand nun direkt vor ihm.

Sie wehrte einen imaginären Angriff ab und machte einen Schritt schräg nach vorne. In der nächsten Bewegung schnellte ihr Ellbogen nach oben.
Hätte dort jemand gestanden, wäre er davon direkt an der Schläfe getroffen worden.

Sie wischte sich ein paar verirrte Strähnen aus dem Gesicht und sah den Jungen fragend an:"Verstanden?"

Der Knirps verzog vor Konzentration das Gesicht und startete den Versuch ihre Bewegungen zu kopieren.

"Sehr gut!", lobte Candela ihn.

Als würde auf seinem Antlitz die Sonne aufgehen strahlte er sie an.

Can konnte nicht anders - sie lächelte zurück.
Geregelte Ausbildung gab es hier nicht - Aron zeigte einem gelegentlich ein, zwei Dinge, doch das meiste musste man sich selbst beibringen.
Üblicherweise würde man von einem der erfahrernen Infector anfangs unterwiesen. Auf welche Art und Weise, da sollte man wiederum Glück haben.
Candela hatte Glück gehabt.
Unter anderem auch wegen Finn.
Doch daran würde sie jetzt nicht denken.
Auch nicht später.
Oder irgendwann.

Can richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Infector vor ihr.
Dieser hatte inzwischen innegehalten und blickte hoffnungsvoll zu ihr auf.

Sie warf einen Blick in die Runde. "Komm, ich zeig dir noch ein paar Dinge."

Stunden später warf Candela einen prüfenden Blick in den Spiegel.

Sie hatte den Kleinen noch ein paar nützliche Techniken gelehrt und sogar Finn dazugeholt - um einige Griffe zu verdeutlichen.
Finn hatte sich allerdings nach einer Weile beschwert, dass ihre Lektionen immer damit endeten, dass er mit der Nase im Dreck landete.
Woraufhin sie ihn in den Ring gezerrt hatte.
Candela schmunzelte - wenn sie ganz genau horchte konnte sie ihn bestimmt in seinem Zimmer jammern hören.

Sie würde sich morgen bei ihm entschuldigen, doch heute - Candela musterte ihr Spiegelbild.

Am Nachmittag hatte sie noch der Bank einen Besuch abgestattet - wobei sie den Meister fast zu Tode erschreckt hatte, weil sie durch das Fenster seines Arbeitszimmers hereinspaziert war.
Durch das Fenster im dritten Stock - um in Form zu bleiben.

Doch jetzt......
Das tiefviolette Kleid war ihr bis zur Taille wie auf den Leib geschneidert, von dort fiel es in einem schlichten Rock herab. Bis zur Mitte ihrer Unterschenkel - denn die Art von jungen Damen, die sich auf solchen Bällen fanden, hatten keine narbenübersäten Knie.
Ihr Haar hatte sie mit einer goldenen Spange auf einer Seite hochgesteckt - passend zu den glitzerten Stickereien, die ihr Kleid zierten.

Candela zwinkerte ihrem Spiegelbild zu.

Möge die Jagd beginnen.

Between Death and FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt