Rainn hat keinen Schimmer, wie lange sie da sitzt und auf den Handabdruck starrt. Irgendwann wird es so dunkel um sie herum, dass sie ihn kaum noch erkennen kann. Einer plötzlichen Panik folgend, lehnt sie sich nach vorn und presst ihre eigene Hand auf den Abdruck. Als ob sie ihn so bewahren kann. Er darf nicht wieder verschwinden. Der Gedanke daran, dass sie glaubt etwas zu sehen, was dann nicht mehr da ist, wird sie an den Rand des Wahnsinns bringen. Ein klassischer Kuppelkoller. Solche Phänomene gab es, laut den Büchern, in der Anfangszeit der B5 oft. Menschen drehten durch, wurden verrückt und sahen Dinge, die nicht da waren. Dieser Handabdruck darf nicht verschwinden, denn ansonsten besteht die Gefahr, dass sie selbst wahnsinnig wird bei dem Gedanken daran, was er bedeuten könnte.
Und so sitzt sie weitere Minuten und starrt auf ihre eigene Hand, die flachgepresst auf dem kühlen Glas liegt. Bis sie den Blick hebt und die Gegend um den Handabdruck absucht. Es ist so verflucht dunkel und sie müsste eigentlich schon längst zurück sein. Ihr Vater wartet sicherlich auf sie mit dem Essen auf dem Tisch. So wie jeden Abend seit man sie zur Hauptjägerin machte und ihr Vater langsam in den Hintergrund trat. Aber wie kann sie jetzt gehen? Sie kramt an ihrem Gürtel nach ihrer Taschenlampe und versucht in dem Lichtschein etwas zu erkennen, doch der Staub von außen lässt das Licht reflektieren, sodass sie die Welt außerhalb des Glases kaum mehr sieht. Nur der fremde Handabdruck ist jetzt nur noch deutlicher zu sehen. Sie reibt erneut darüber, muss noch mal sicherstellen, dass es nicht ihr eigener Abdruck ist. Doch er bleibt an Ort und Stelle. Sie bildet sich das nicht ein. Dort, auf der anderen Seite, sind Menschen.
Oder zumindest einer, der vor kurzem noch da war.
Wie ist das möglich? Man hat ihr, seit sie ein kleines Kind ist, immer und immer wieder erzählt, dass nur ein einziger Schritt nach draußen der sichere Tod bedeutet. Die Strahlung ist noch viel zu stark, sodass alle Menschen, die nach den Mega-Gaus, die das ganze Land durchzogen, außerhalb der Kuppel gewesen waren, keinerlei Überlebenschancen haben konnten. Selbst wenn es heutzutage, nach all den Jahrzehnten, möglich ist dort zu überleben, wie kann sich seitdem dort kein Leben entwickelt haben? Das würde bedeuten, dass manche die Katastrophe vor fast siebzig Jahren tatsächlich überlebten.
Ihre Gedanken rasen unaufhörlich, als sie sich langsam wieder erhebt und versucht mit der Taschenlampe noch mehr zu erkennen. Sie ist kurz davor ihre Suche abzubrechen und am nächsten Tag wiederzukommen, als das Licht der Taschenlampe etwas anderes als Staub reflektiert. Ein kurzes Aufblitzen, so fein wie ein Menschenhaar. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis sie das Blitzen erneut findet und im Schein der Lampe festhält.
„Was zur Hölle ist das?", flüstert sie und erschreckt sich bei dem Klang ihrer eigenen Stimme in der Totenstille, die sie umgibt. Wie beängstigend die Dunkelheit und Stille mit einem Schlag nur ist.
Bei genauerer Betrachtung wirkt das Haar wie ein feiner, gradliniger Riss in dem Glas und je näher sie es geäugt, umso sicherer ist sie, dass es sich tatsächlich in dem Glas befindet und nicht dahinter. Sie verfolgt den Riss mit dem Licht ihrer Lampe, fährt ihn gleichzeitig mit dem Zeigefinger nach. Er hat die Form eines Rechtecks und ist vielleicht einen Meter hoch und einen breit. Genauer lässt sich das nicht sagen, denn er verschwindet nach unten in der Erde. Der Handabdruck befindet sich exakt in der Mitte des Rechtecks, als hätte er versucht, von der anderen Seite dagegen zu drücken. Der Abdruck kann noch nicht sonderlich alt sein. Der Sandsturm der letzten Tage hätte ihn sicherlich verblichen oder ganz zerstört. Jemand oder Etwas hat also vor kurzer Zeit versucht. Hier hereinzukommen.
Milo beginnt hinter ihr zu winseln. Es klingt wie ein gelangweiltes Jammern, welches sie ihm so ganz und gar nicht übel nehmen kann. Aber Rainn kann hier nicht einfach aufhören. Auch wenn sie insgeheim weiß, dass das keine Sache ist, die sie für sich behalten wird. Unter keinen Umständen. Dafür ist das zu immens, zu wichtig. Es wird eine riesige Welle machen, man wird die Stelle genauestens analysieren, so wie Rainn es nun tut.
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THE OTHER SIDE
RomanceArizona im Jahr 2070: Ein Leben außerhalb der Biosphäre 5 ist nach den verheerenden Atomkriegen nicht möglich. Das erzählte man der Jägerin Rainn schon seit ihrem ersten Tag in der Kuppel. Für sie gibt es kein anderes Leben als das durch den künstli...