Kapitel 21

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Rainn erwacht allein.

Sie blinzelt ein paar Mal träge und wischt sich den brennenden Sand und die Überbleibsel des Schlafes aus den Augen. Es dauert zudem einen Moment, bis sie begreift, wo sie ist und was zuvor geschah.

Obwohl sie schon seit Wochen von ihrem alten Zuhause weg ist, hat sie in der ersten Sekunde des Erwachens geglaubt sich wieder in der Biosphäre zu befinden. Dort, wo das Leben offensichtlich so einfach zu sein scheint. Wo ihr Vater sie am Morgen mit einem heißen Kräuteraufguss erwartet, bevor sie sich die Aufgaben des Tages einteilen. Wo Juniper ihnen irgendwann Essen vorbei bringt, während die immer fröhliche Ravi an ihrem Rockzipfel hängt. Rainn begreift, dass das Gefühl sie deswegen betrog, weil sie hier zum ersten Mal aufgewacht ist und sich nicht wie eine Fremde, nicht unerwünscht fühlt.

Sie richtet sich vorsichtig auf. Das Holzbett unter ihr knarzt leise. Von den Fenstern dringt helles Licht zu ihr hinein, doch nicht grell beißend von der Seite, was dafür spricht, dass es schon nach Mittag ist. Wie lange hat sie geschlafen? Und wann hat Conor sie verlassen? Gähnend reibt sie sich über ihr Gesicht und realisiert dabei, dass sie wirklich ziemlich stinkt. Conor hat es sicherlich nur deshalb neben ihr ausgehalten, weil er nicht weniger stank.

Beim Herausgehen entdeckt sie auf einem kleinen Baumstumpf neben ihrer Hütter ein Paket aus Klamotten und Stoffen zum Abtrocknen. Ohne Frage ist das der Grund gewesen, warum Willow bei ihr reingeschaut hat.

Eine Dusche klingt wirklich nach dem Besten, was sie nun tun kann. Sie nimmt die Abkürzung an der Mauer entlang und legt routiniert ihre alten Klamotten ab, die steif an ihrem Körper kleben. Japsend steht sie schließlich unter dem eiskalten Strahl und drückt ihren Kopf zwischen ihre Schulterblätter, während der harte Strahl auf ihren Rücken prasselt wie kleine Nadelstiche. Sie erträgt es und glaubt gleichzeitig schon lange nichts Besseres gefühlt zu haben.

Sie wäscht sich ausgiebig, selbst die Haare, deren Flechtwerk nur noch ein trauriger Überbleibsel von Willows letztem Bemühungen ist. Sie löst die strammen Verflechtungen an ihrer Kopfhaut und versucht, so gut es geht, die wüste Mähne mit ihren Fingern zu kämen. Dank der Zöpfe weiß sie nicht einmal mehr, ob sie von Natur aus glatte Haare oder Locken besitzt. Hätte sie die gleichen Haare wie Juniper, dann wären es goldschimmernde Wellen, die ihr engelhaftes Gesicht einrahmen. Zumindest ein engelhaftes Gesicht ist definitiv nichts, was sie mit ihrer Schwester teilt. Und was ihre Haare betrifft, trägt sie diese Flechtfrisur schon zu lange, um das zu wissen.

Die, noch immer nassen Haare, die ihr in der Form bis weit über die Schulter fallen, bindet sie schließlich mit dem Lederband, das sie ansonsten um ihr Hosenbein gewickelt hat, um beim Jagen im Unterholz nicht an kleineren Ästchen hängen zu bleiben, fest zu einem Knoten im Nacken zusammen.

Mit einem Schmunzeln hebt sie die Klamotten, die Willow ihr bereit gelegt hat, auf Augenhöhe hoch. Die übliche beigefarbene Tunika mit dem weiten Ausschnitt und den Bändeln an der Taille, hat sie offenbar drastisch gekürzt, sodass es kein Kleid mehr darstellt, sondern lediglich ein Oberteil. Daneben liegt eine kurze, schwarze Stoffhose. Vermutlich ist sie es leid gewesen sich Rainns ewiges Gejammer bezüglich der Praktikabilität dieser Tunika bei körperlichen Arbeiten anzuhören. Sie zieht sich die Hose an und darüber die Tunika, die sie in den Bund der Hose steckt.

Dann bringt sie ihre alten Sachen zurück und begibt sich zum Lagerfeuerplatz. Tatsächlich scheint es später Nachmittag zu sein, denn die Sonne wirft schon weite Schatten auf den Platz. Sobald sie auch nur in die Nähe des Gemeinschaftsplatzes kommt, bemerkt sie, dass die Stimmung eine andere ist, als die Tage zuvor.

Rainn passiert die Gruppe der kleinen Kinder. Vier an der Zahl, die im Staub mit Steinen spielen, die sie so gut es geht, versuchen in rostige Blechdosen zu werfen. Sie sehen Rainn sofort und begrüßen sie lautstark. Irritiert über diese Geste, hebt Rainn lediglich lächelnd die Hand und geht unbeirrt weiter. Eine Frau läuft mit einem Korb voller Wäsche in der Hand an ihr vorbei. Sie lächelt warmherzig und grüßt sie sogar mit ihrem Namen. Rainn sieht auch ihr verwirrt hinterher. Wie ist doch gleich ihr Name? Lauren? Laurel? Kopfschüttelnd geht Rainn weiter zu dem Lagerplatz, wo sie auf der überdachten Bank neben der Essensausgabe laute Stimmen hört. Sie erkannt das Poltern der Stimme sofort. Und als sie schließlich die Gruppe an dem Tisch sitzen sieht, kann sie nicht anders als zu lächeln.

THE OTHER SIDEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt