Kapitel 16

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Den Blick der Erkenntnis in Caldwells Gesicht ist einer, den Rainn so schnell garantiert nicht wieder vergessen wird. Er versucht sofort die Fassung wiederzuerlangen, als er sie entdeckt, aber es ist schon zu spät. Etwas in ihm zerbricht in tausend Teile. Seine Nasenflügel beben und die Hände schließen sich auf beiden Seiten zu Fäusten. Wenn es zuvor schon still gewesen ist, hätte man jetzt wohl eine Stecknadel fallen hören können. Rainn versucht dem starken Mann irgendwie mit Blicken zu verdeutlichen, dass es ihr leid tut, dass sie ihr Leben keineswegs über das von Ruby gestellt hat. Aber es bringt nichts. Caldwell braucht offenbar ein Ventil, denn seine Züge verfinstern sich mit jeder Sekunde mehr. Und das ist der Moment in dem Conor wieder aus dem Stall tritt und kurz stehen bleibt als er Caldwell am Ende des Platzes stehen sieht.

„Geh zu Willow“, brummt er, während er sie passiert und auf Caldwell zusteuert, als würde er dabei in seinen sicheren Tod gehen. Rainn will widersprechen und ihn nicht alleine in diesen Kampf rennen lassen. Nicht nachdem, was sie durchgemacht haben und was er für sie getan hat. Doch wie als hätte er es geahnt, sieht er nochmal mit strengem Blick zurück. „Tu wenigstens einmal, was ich dir sage.“

Und dann bleibt ihr nichts anderes übrig als ihm dabei zuzusehen, wie er sich ihrem Anführer mit aufrechtem, fast schon stolzem Gang nähert.

Caldwell beobachtet ihn regungslos, bis er ihn so gut wie erreicht hat, dann macht er auf dem Absatz kehrt und verschwindet in seinem Haus. Conor folgt, ohne sich nochmal zu ihr umzudrehen. Rainn entlässt daraufhin die eingehaltene Luft aus ihren Lungen und realisiert währenddessen, dass Selena noch immer neben ihr steht. Sie beobachtet argwöhnisch jede ihrer Regungen.

„Es gab wirklich nichts, was er hätte tun können“, erklärt Rainn genervt mit einem Augenrollen.

„Das spielt keine Rolle. Du bist hier, sie nicht. Conor hatte einen einzigen, beschissenen Auftrag als er los ist.“

„Es ist weder seine, noch meine Schuld. Aber kotz dich ruhig aus, wenn es dir hilft. Tu’s nur das nächste Mal nicht direkt in mein Gesicht. Von deiner Kotze hatte ich tatsächlich schon genug in meinem Leben.“ Mit diesen Worten wendet sich Rainn ab und läuft über den Hof zu Willows Hütte hinüber. Dabei fühlt sie noch immer Selenas bohrende Blicke in ihrem Rücken, die sie wohl am liebsten durchbohrt hätte, wenn das möglich wäre. Aber Selena tut nichts weiter als sie anzustarren, schweigt und lässt sie passieren. Und das ist fast schon untypisch für sie.

Rainn versucht all die Gefühle runterzuschlucken, als sie über die Holzveranda schreitet. Als ihre Erinnerung ihr für einen kurzen Augenblick Milo auf den Boden projiziert, der so gerne bei Willow gesessen hat, weil er von ihr immer etwas Fleisch bekam. Doch der Kloß in ihrem Hals bleibt beharrlich.

Verdammt, nicht nur diese Menschen hier haben etwas verloren, was ihnen etwas bedeutet hat!
Sie hat ihren besten Freund, einen Teil ihrer Familie an diese Bastarde verloren. Aber diese Idioten werden niemals verstehen, wie es sich anfühlt. Sollen sie ihr ruhig die Schuld an allem geben, was geschehen ist, wenn sie sich dann besser fühlen. Sollen sie dabei nur weiterhin verdrängen, dass sie eine Mitschuld daran tragen. Denn sie kennen ihre Welt und wussten im Gegensatz zu Rainn von Anfang an um das Risiko von ihrer Existenz innerhalb ihrer Reihen.

Sie sieht verbissen und wütend aus, als sie die Hütte betritt und atmet im Inneren schließlich all die einbehaltene Trauer mit einem erstickten Keuchen aus. Die Tür schließt sich hinter ihr und sie lehnt sich mit dem Rücken dagegen.
Rainn ist wieder zurück. Da wo alles begann.

Erneut kommt Willow aus dem Schatten in der Ecke getreten. Sie scheint noch mehr gealtert zu sein in den Stunden, die Rainn weggewesen ist. Ihr mitfühlender Blick wandert durch Rainns Gesicht, während sie das Tuch, mit dem sie sich gerade die Hände trocknet, auf den Tisch neben sich legt.

THE OTHER SIDEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt