Es bleibt ihr nicht einmal vergönnt, sich die Ohren zuzuhalten. So fest sie kann presst sie ihren Kopf zwischen die Schulterblätter hinab. So lange bis ihr Nacken schmerzt. Aber es hilft rein gar nichts und dämmt die Geräusche nicht einmal annähernd.
Rainn hat in ihrem Leben noch nie etwas Grauenhafteres gehört, als Rubys Leiden in diesem Moment. Es ist von dem liebevollen Akt, von dem sie so oft gelesen und gehört hat, so weit entfernt wie die Sterne von der Erde. Selbst die animalischen Geräusche, die Selena und Flint von sich gegeben haben, hatten so anders geklungen. Nun vernimmt sie eine Mischung aus widerwärtigem Grunzen, Stöhnen und hämischem Lachen. Jedes weitere Geräusch, jeder zaghafte, leidende Ton von Ruby lässt Rainn innerlich nur noch mehr zerbrechen. Den Kopf eingezogen, die Knie fest an sich herangezogen, beginnt sie zu weinen. Zunächst still, dann lauter, bis ihr Kopf aus ihrem eigenen Summen besteht.
Und so bemerkt sie zunächst auch nicht, dass man ihr von hinten die Fesseln mit einem Ratsch löst und ihre Arme förmlich auseinander fliegen.
„Was ...", stammelt sie und versucht nach hinten zu sehen.
„Ppsssttt", zischt es in ihrem Nacken energisch. Sie erkennt Conors tiefe Stimme schon an dem simplen Laut. Die Freude darüber, seine Stimme zu hören, löst weitere Tränen aus und verursacht ein herzzerreißendes Schluchzen. Zu mehr ist sie gar nicht in der Lage, als sein Gesicht neben ihrem auftaucht und er sich mit verbissener Miene an den Fußfesseln zu schaffen macht. Er riecht nach Pferd und Leder und irgendwie nach der Form Geborgenheit, die sie auch gefühlt hat, als sie vor ihm auf dem Pferderücken saß. Es kommt ihr vor, als wäre das nun schon eine Ewigkeit her und sie sehnt sich schlagartig nach diesem Moment zurück.
Conor löst ihre Fesseln, schlingt ihren Arm, ohne Rücksicht auf ihre eingerosteten Muskeln, um seinen Hals und zieht sie in geduckter Haltung mit sich.
„Warte ... Ruby", keucht sie neben ihm. Conor stockt in der Bewegung und sieht hektisch zurück. Da hin, wo der Schein des Feuers noch immer gespenstisch auf der Wand flackert, wo die Schatten der Männer zu sehen sind. Wo noch immer Rubys Schluchzen die Nacht erfüllt. Sie sieht die Abscheu in seinem Gesicht, gefolgt von Wut und einer gewissen Verzweiflung. Dann entringt seiner Kehle ein tiefsitzendes Knurren. Sein Blick reißt ab und richtet sich wieder in die Dunkelheit nach vorne. Er zieht sie gewaltvoll weiter, weil ihre Beine ihr kaum mehr gehorchen wollen.
„Nein, nein ... stopp!", versucht sie sich gegen ihn zu wehren und stemmt dabei die Beine in den Schotter der Ruine, die sie noch immer nicht verlassen haben.
„Was glaubst du, was ich tun kann, hm?", zischt er ihr wütend zu. „Dass sie sie nun haben ist der einzige Grund, warum ich überhaupt erst an dich rankam."
„Wir können sie nicht im Stich lassen." In Gedanken sieht sie, wie diese Männer eine zerbrochene, so blutjunge Rubs zurückbringen. Zu dem einzigen Lichtblick, der noch in Rubys aktueller Situation existiert. Sie sieht die Trauer in ihrem Gesicht, als sie bemerkt, dass Rainn nicht mehr da ist. Dass sie geflohen ist, anstatt ihr zu helfen, sie zu beschützen. Sie hat noch immer ihre unsichere Stimme im Ohr, als sie sie fragt, was sie nun tun sollen. Sie baut auf Rainn, braucht sie.
Doch Conor ignoriert sie, zieht ihren Arm um seinen Hals fester und hebt sie mit seinem anderen Arm um ihre Hüfte an, damit sie ihre Beine nicht mehr in den Boden stemmen kann. Mit einem Schnaufen und Keuchen trägt er sie nun mehr, als dass sie läuft. Rainn wehrt sich noch immer, versucht seinem Griff zu entkommen. Aber ihr Sichtfeld verschwimmt immer wieder vor Anstrengung und ihre Beine leisten kaum mehr Widerstand, egal wie vehement sie es ihnen befiehlt. Und irgendwann gibt sie resigniert auf. Sie fühlt wie der Boden unter ihren Füßen weicher wird, wie es nicht mehr nach staubigen Beton, sondern würzigem Harz zu riechen beginnt. Und dann ist da, wie aus dem Nichts, sein Pferd, an dessen warmen, weichen Hals sie sich klammert, während er schnell die Zügel vom Baum löst und Rainn zum Steigbügel dirigiert. Conor hebt sie mehr hoch, als dass sie nach oben klettert.
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THE OTHER SIDE
RomanceArizona im Jahr 2070: Ein Leben außerhalb der Biosphäre 5 ist nach den verheerenden Atomkriegen nicht möglich. Das erzählte man der Jägerin Rainn schon seit ihrem ersten Tag in der Kuppel. Für sie gibt es kein anderes Leben als das durch den künstli...