Kapitel 15

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Alles ist plötzlich anders. Zumindest für Rainn.

Ob es Conor ähnlich ergeht, kann sie nicht einmal sagen. Er fällt sogleich in seine Conor-hafte Ablehnung zurück, die hauptsächlich darin besteht wie ein Toter zu schweigen und sie nicht anzusehen. Es hätte ein durchaus romantischer Moment werden können, so wie sie nebeneinander auf dem Felsen sitzen und der Sonne dabei zusahen, wie sie langsam die Schatten der Nacht vertreibt und schon im nächsten Moment die verschiedenen Gesteinsschichten in allen erdenklichen Farben leuchten lässt. Am Himmel ziehen in gemächlichem Tempo vereinzelte Wolken vorbei, die schon bald in satten Gelb- und Orangetönen leuchten. Rainn weiß nicht, ob sie jemals zuvor einen so atemberaubenden Anblick gesehen hat. Die Vergänglichkeit des schönen Augenblickes macht sie fröhlich und traurig zugleich. Doch diese Gefühlslage passt wohl ohnehin am besten zu der Situation, in der sie sich nun befindet.

Sie schreckt aus ihren Gedanken, als sich Conor ruckartig erhebt, den Staub von deiner Hose klopft und zu dem Pferd zurückläuft.

„Wir sollten los“, brummt er, ihr den Rücken zugewandt.

Rainn antwortet ihm nicht, erhebt sich stattdessen wortlos und mit schmerzenden Gliedern. Die Sonne, die sich gerade mal bis zur Hälfte hinter den weit entfernten Hügeln erhoben hat, brennt ihr in den trockenen Augen und Rainn realisiert, wie müde sie im Grunde ist. Wie ausgelaugt sich ihr Körper anfühlt.
Conor kommt mit strammen Schritten zurück, greift nach der Decke und rollt sie wieder zusammen, um sie hinter den Sattel zu befestigen. Auch dabei behandelt er sie, als wäre sie gar nicht da. Vielleicht hätte es sie zuvor wütend gemacht, gerade nachdem sie ihm gesagt hat, dass er aufhören soll, sie zu ignorieren. Aber sie ist zu müde und zu erschöpft um eine erneute Diskussion mit ihm zu beginnen. Vielleicht ist es auch ein Stückweit egal, weil sie noch immer das Kratzen seines Bartes in ihrem Gesicht, seine fordernden Lippen zwischen ihren und seine Zunge prickelnd an ihrer fühlt. Er kann sie nun ignorieren so sehr er will, doch dieser Augenblick steht wie ein unumstößlicher Fakt zwischen ihnen, an dem auch er nichts mehr ändern kann.

Weiterhin wortlos zieht er das Pferd am Zügel den schmalen Pfad hinauf, wirft nur ab und zu mal einen Blick zu Rainn zurück, um zu prüfen, ob sie denn überhaupt folgt. Und das tut sie mehr schlecht als recht. Sie hält sich an der steinigen Felswand fest und versucht auf dem unebenen Boden irgendwie Halt zu finden. Ihre Atmung ist schwer und rau, als sie sich schließlich auf der Zwischenebene befinden, wo sie endlich wieder auf das Pferd steigen können. Conor hilft ihr hochzukommen, schwingt sich dann hinter sie und treibt das Tier sofort an.

Vielleicht hätte Rainn Angst davor haben sollen wieder zu der Gemeinschaft zurückzukehren, nachdem Conor ihr unmissverständlich klar gemacht hat, dass man Ruby zurück erwartet und nicht sie. Aber das hat sie nicht. Zunächst glaubt sie, dass es daran liegt, dass es sie nicht kümmert, was mit ihr dort geschehen wird. Als sie jedoch wieder vor Conor sitzt und er sie in den Armen hält, realisiert sie, dass es vielmehr Conor ist, dem sie uneingeschränkt vertraut. Wenn er glaubt, dass es eine gute Idee ist wieder zurückzukehren, dann stellt sie das nicht in Frage. Vielleicht ist es besser, wenn sie das tun würde, weil sie ihn im Grunde nicht einmal kennt. Aber sie kann nichts daran ändern, dass sie ihr Schicksal gerne in seine Hände legt.

Conor hat es nicht so eilig zurückzureiten, wie er es in der Nacht eilig hatte hier herzukommen. Aber sie fühlt dennoch, dass er angespannt ist. Er scheint die Umgebung immer wieder abzusuchen, blickt nach rechts und links an ihrem Kopf vorbei umher. Er bleibt so lange wie möglich auf der offenen Fläche der Schlucht, von welcher aus er einen guten Blick in die Ferne hat. Vermutlich um so schneller erkennen zu können, falls sich ihnen jemand nähert.
Nach etwa einer Stunde im gleichmäßigen Schritt des Tieres scheint auch Conor sich etwas zu entspannen. Die Vegetation um sie herum wird grüner, hügeliger. Conor steuert das Pferd in Richtung eines Wasserloches, wo es kurz trinken kann, bevor sie ihren Weg fortsetzen.
Sofort reißt das Tier gierig den Kopf nach unten und trink geräuschvoll von dem Wasser. Conor lässt die Zügel schlaff hängen, wartet geduldig ab, während Rainn auf seine Hand starrt. Er hat große, breite Hände. Sie erkennt zahlreiche Narben auf seinem Handrücken. Manche davon sehen aus, als wäre die Wunde wirklich tief gewesen und schlecht verheilt. Vorsichtig hebt sie ihre eigene Hand, streicht sanft mit den Fingerspitzen über die größte Narbe, fühlt, wie wulstig sie unter ihrer eigenen Haut ist. Sie spürt, dass er sich hinter ihr anspannt und über ihre Schulter hinab späht. Dort, wo ihre Fingerspitzen über seinen Handrücken, zu seinem Handgelenk wandern und dann noch weiter zu seinem Unterarm. Sie denkt daran, wie er sie mit dem Unterarm gegen den Wassertank gedrückt hat, wie fest sich seine Muskeln in diesem Augenblick angefühlt haben. Er ist kein bulliger Typ wie Flint oder ein Muskelprotz wie Caldwell, aber er ist stark und kraftvoll. Er besitzt diese unterschwellige Stärke, die man erst beim zweiten Hinsehen wahrnimmt und die ab diesem Moment stets allgegenwärtig ist. Der Gedanke daran, wie wohl der Rest seines Körpers aussieht, wie er sich anfühlen mag, lässt ihre Atmung schneller werden.

THE OTHER SIDEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt