Kapitel 25

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Rainn ist nicht blöd.

Sie weiß ganz genau, was Selenas ‚Du weißt, was Caldwell entscheiden wird!' zu bedeuten hat. Es bedeutet, dass er sich ihrem Kampf nicht anschließen wird und sie damit ganz auf sich alleine gestellt ist. Zumindest fast. Sie weiß, dass sie es Conor nicht wird ausreden können, dass er sie begleitet. Aber gefallen tut es ihr nur bedingt. Sie ist noch immer mächtig wütend auf ihn und darauf, dass er ihr verschwiegen hat, was er über ihre Heimat weiß und in welcher Gefahr sie eigentlich schwebt. Aber insgeheim ist sie auch froh, dass er an ihrer Seite steht. Und das tut er. Er diskutiert nicht mehr mit ihr darüber, ob sie nun gehen oder nicht. Er hilft ihr aktiv dabei und bringt Struktur in ihre bisher unüberlegte Flucht. Er packt Proviant zusammen, lässt die Pferde satteln und verschwindet anschließend zum Gespräch mit Selena, während Rainn ihren Rucksack mit Verbandszeug, Decken, Messern und allem, was sie sonst so finden kann, füllt.

Willow gibt ihr die Sachen, ohne nachzufragen. Sie wirkt unglücklich, als zieht ihre älteste Tochter in den Krieg. Und vielleicht ist es auch ein wenig so. Rainn versucht diese emotionalen Gedanken gar nicht erst an sich heranzulassen. Ihre Gedanken zwingen sie in die Ferne zu schweifen. Zu dem Ort, der ihr nach all den Wochen und Monaten so eigenartig fremd geworden ist. Emotional und in ihren Erinnerungen.

Aber wenn sie dann den Ort in ihren Gedanken verlässt und sich dort nur auf ihre Familie fokussiert, sind die Gefühle wieder da. Juniper und ihr ungeborenes Kind, ihr Vater, Ravi, selbst Knox. Sie wird nicht zulassen, dass man ihnen etwas antut, denn dafür ist sie nicht geflohen. Zudem, und das will sie sich eigentlich gar nicht eingestehen, hätte sie ohne ihre Flucht vielleicht nicht Junipers Leben retten können, dafür aber die gesamten Einwohner der Biosphäre. Ohne ihre Flucht hätten Raze und die anderen nie so viel über die Biosphäre erfahren. Dies versucht sie aber so weit es geht auszublenden, genauso wie die Tatsache, dass sie keinen Schimmer hat, wie sie Raze und die anderen aufhalten soll. Acht verbliebene Pfeile zählt sie in ihrem Köcher. Acht Pfeile gegen vierzig mordlustige Männer. Trifft sie jeden einzeln, dann sind noch immer genügend übrig, um Conor und sie in den Boden zu stampfen, als wären sie nur nervige Käfer auf ihrem Weg zum Paradies. Aber hier rumsitzen würde ihnen nur noch mehr Zeit geben.

Conor glaubt, dass Raze und seine Männer vom Engpass aus fünf Tagesmärsche brauchen werden. Inklusive der Zeit, die sie benötigen, um die Biosphäre wirklich zu finden. Und zu Rainns Unmut wird das wohl schneller gehen, als sie denken. Die Biosphäre befindet sich in einem weitläufigen Kessel, umschlossen von einem Hügelareal, über welches man zwangsläufig gen Süden muss, wenn man nicht durch metertiefe Steinschluchten mit rasiermesserscharfen Felsvorsprüngen möchte. Das Glück ist bislang nur gewesen, dass es offensichtlich für niemanden einen Grund gegeben hat weiter südlich in die arge Wüste Arizonas vorzudringen. Hat man das Hügelareal bezwungen, in dem Rainn, Selena, Conor und Flint ihre erste Nacht am Lagerfeuer miteinander verbrachten, kann man die Biosphäre nicht übersehen. Sie ragt wie eine glänzende, halbierte Seifenblase aus dem matten Sandboden heraus und schimmert im Sonnenlicht in allen Facetten. Es hätte fast nur noch ein großer blinkender Leuchtpfeil darüber gefehlt. Nein, die Räuber werden nicht so schnell sein wie Rainn und Conor, aber irgendwann werden auch sie ankommen.

Rainn beginnt grob zu nachzurechnen, als sie sich das Hosenbein mit den Lederbändern zusammenschnürt. Sie muss die Biosphäre vor knapp drei Monaten verlassen haben, vielleicht auch ein wenig mehr. Diesen Berechnungen nach muss Juniper mittlerweile kurz vor der Geburt stehen. Vielleicht ist es auch schon vorbei. Es macht sie nervös, nur darüber nachzudenken, dass da vielleicht noch ein gesichtsloses Wesen mehr existiert. Ein Teil mehr ihrer Familie, den sie schützen muss.

Sie späht hinaus. Es wird langsam Abend und Conor lässt sich verflucht viel Zeit mit seinen Vorbereitungen, auch wenn sie ihm versprochen hat, auf ihn zu warten. Aber sie will so schnell wie möglich los, so schnell wie möglich vor den Räubern am Ziel sein. Und dann? Sie schüttelt den Gedanken ab. Sie wird schon eine Lösung finden, sie muss es einfach. Auch wenn das bedeutet, dass sie eben zu zweit gegen vierzig Männer kämpfen werden.

THE OTHER SIDEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt