Kapitel 20

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Sie sind alle hundemüde. Auf sämtlich, verfügbaren Arten, die man nur müde sein kann. Körperlich ausgelaugt und so nah an der Erschöpfung, dass jeder weitere Schritt des Pferdes unter ihnen in den Gliedern schmerzt. Ihre Gedanken sind schwer, sodass sie nicht einmal wissen, was sie nun empfinden sollen. Es sollte Freude sein ... oder? Doch Rainn ist zu ausgelaugt, um genauer darüber nachzudenken.

Doch sie haben es geschafft. Das, was sie sich vorgenommen haben, hat ausnahmslos funktioniert. Sie kehren nach Hause zurück, ohne weitere Verluste. Vollständig, so wie es von Anfang an hätte sein sollen. Und doch ist alles anders und keineswegs wie zuvor, auch wenn das Rainns Hoffnung war. Ob Ruby schläft, weiß sie nicht. Rainn reitet hinter den anderen her, sieht immer nur wie ihr Kopf vor Selena hin und her wippt, als hätten ihre Muskeln im Hals keinerlei Spannung mehr. Sie bringen sie zurück. Zurück zu ihrem Sohn. Aber Rainn wird klar, dass es vielleicht egal ist. Vielleicht kehrt Ruby nie wieder zurück. Ganz sicher jedoch nicht mehr als die Person, die sie einmal gewesen ist.

Ihr Blick wandert zu Conor, der leicht versetzt vor ihr reitet. Sie achtet akribisch darauf sich nicht direkt neben ihm zu befinden und sie ist sich sicher, dass es ihm auch recht so ist. So wie sie erst einmal begreifen muss, was die letzten Stunden für sie bedeuteten, muss er das wohl auch. Er ist nicht schweigsamer als sonst, was sowieso kaum mehr möglich wäre, aber die Stille ist eine andere. Melancholisch. Trauernd auf eine gewisse Art und Weise. Es kann ihre eigene Müdigkeit sein, die sie nun in dieser deprimierten Stimmung gefangen hält, obwohl sie eigentlich strahlen müsste vor Freude. Vermutlich ist es so. Sobald sie Zuhause ankommen, geschlafen und geduscht haben, wird alles anderes sein. Besser.

Und so zieht sich der Ritt zurück beinahe bis in die Unendlichkeit und zerrt mit jedem weiteren Schritt gewaltvoll an ihren Nerven. Was nur noch schlimmer wird, als irgendwann die Sonne wieder aufgeht und brutal in ihren Augen sticht. Die Wolkenschicht des vorherigen Tages hat sich verzogen und zeigt sich nur noch als vereinzelte Fäden am Himmel. Selbst als sie die Mauer der Gemeinschaft in der Ferne erkennen, ist es schwer die Erleichterung in sich zu finden.

Ungläubig starrt man ihnen entgegen und spricht leise miteinander, als würde man ansonsten eine schlafende Ruby wecken und nicht riskieren wollen, was dann tatsächlich in ihr erwacht. Als Rainn im Innenhof einen kurzen Blick auf sie erhascht, sind diese Gedanken nur allzu nachvollziehbar. All die Stunden hinter ihr zu reiten, ihr nicht ins Gesicht sehen zu müssen, hat sie vergessen lassen wie schrecklich sie aussieht. Wie blass, grün, blau und rot ihr Gesicht gleichzeitig ist. Sie wendet schnell den Blick ab und bringt das Pferd in den Stall zurück, wo man es ihr sofort abnimmt.

Ohne jemandem einen weiteren Blick zu schenken, trottet sie schließlich davon in Richtung ihrer Hütte.

Es wird dort niemand auf sie warten. Sie ist ganz allein. Aber irgendwie fühlt sich das gerade genau richtig an. Dort angekommen zieht sie sich den Bogen vom Körper und löst die Halterung des Köchers, der sich um ihren Oberkörper schlingt, und der einen nun einen schweißnassen Streifen zwischen ihren Brüsten hinterlässt. Das Messer, samt Holster, wirft sie achtlos in die Ecke. Eigentlich hätte sie sich gleich in ihr Bett schmeißen sollen und wäre sicherlich innerhalb von wenigen Sekunden eingeschlafen. Doch sie schaffte es nicht, will es gar nicht.

Also sackt sie erschöpft mit dem Rücken an die Wand und lässt sich rückwärts daran entlanggleiten, bis sie auf dem Erdboden sitzt, die Knie nah an sich herangezogen. So verharrt sie, starrt an die gegenüberliegende Wand und durchläuft die letzten Stunden und Tage in ihren Gedanken jedes Mal aufs Neue. Sie weiß, dass ihr Kopf im Grunde zu müde ist, um alles genauestens zu reflektieren, aber sie schafft es einfach nicht damit aufzuhören. Er spielt unaufhörlich alles ab, was sich zuvor ereignete.

Von draußen kommen Stimmen, die so ganz anders klingen wie noch vor zwei Tagen. Leises Lachen. Glücklich erscheinendes Plaudern, auch wenn es so ist, als würde man den Zurückkehrenden den Respekt der Ruhe zollen. Rainn ist ihnen dankbar dafür, denn sie will im Grunde nichts lieber als in Ruhe gelassen zu werden.

THE OTHER SIDEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt