Kapitel 11

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„Du bleibst hier!", befiehlt er, als er sich gleichzeitig abwendet und nach draußen stürmt. Rainn beißt die Zähne fest aufeinander, als sie ihm hinterher sieht.

„Den Teufel werd ich", knurrt sie und rennt los. Zwei Meter vor der Hütte bemerkt Conor, dass sie ihm folgt und wirbelt herum. Er bekommt sie an der Schulter zu packen und drängt sie wieder zurück in Richtung ihrer Hütte.

„Bleib hier, hab ich gesagt", presst er mit wildem Ausdruck hervor.

„Und ich habe gesagt: Den Teufel werd ich. Aber da warst du schon weg", entgegnet sie und stößt seine Hand grob von ihrer Schulter.

„Du hast keine Ahnung wer das ist", sagt er aufgebracht.

„Spielt das eine Rolle?"

„Ja, verflucht!"

„Gut ... für dich vielleicht." Und mit diesen Worten läuft sie an ihm vorbei zum Lagerplatz, wo bereits einige Menschen wie aufgescheuchte Hühner ungeordnet umherrennen. Sie hört warnende Rufe und Schreie vom Tor. Und dann ertönt ein lauter Schlag, der den Boden unter ihren Füßen vibrieren lässt. Ihr Blick richtet sich zum großen Eisentor, das unter dem Schlag gefährlich zu schwanken scheint. Als der zweite Schlag von außen erfolgt, bricht es schließlich aus der oberen Halterung. Sie sieht mit Schrecken, wie die Männer auf der Mauer ihre Pfeile verschießen und schaut eilig zum Lager hinüber.

Dann setzt sie zum Sprint an. Sie sieht, dass Conor ihr ebenfalls in Richtung Lager folgt. Aber er scheint es aufgegeben zu haben, sie zurückhalten zu wollen, denn im Lager reicht er ihr nicht nur ihr Messer, welches sie sogleich hektisch am Gürtel befestigt, sondern auch ihren Bogen und Köcher. Anschließend stattet er sich selbst gekonnt mit sämtlichen Waffen aus, die er in die Hände bekommt.

Bevor sie aus dem Lager stürmen kann, hält er sie noch an der Hand zurück und sieht sie eindringlich an. „Halt dich im Hintergrund, verstanden? Sie wollen dich."

Er muss die Verwirrung über diese Worte in ihren Augen gesehen haben, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als all das im Raum stehen zu lassen. Für mehr ist jetzt keine Zeit. Von draußen dringen weitere Rufe zu ihnen, die sich nunmehr mit eindeutigen Schmerzensschreien mischen, die Rainn durch Mark und Bein gehen. Noch nie hat sie Menschen so schreien hören. Nicht einmal, wenn sie sich in der Biosphäre das Bein brachen oder von einer Leiter stürzten. Ihr Herz schlägt schmerzhaft, ihre Atmung ist stockend und krampfhaft, obwohl sie sich nicht einmal viel bewegt hat.

Conors Worte hallen wie ein Echo in ihrem Kopf.

Sie wollen dich. Sie wollen dich.

Und sie schrecken offensichtlich nicht davor zurück, dafür zu töten. Als sie nach draußen treten, hängt das Tor nur noch schief in einer Angel und schwankt bedrohlich vor und zurück. Es wirkt als drückt jemand von der anderen Seite mit dem ganzen Gewicht immer wieder dagegen. Rainn sieht davor einen Torwächter auf dem Rücken liegen. Ein Pfeil ragt aus seiner Brust und sie weiß nicht, ob dieser ihn getötet hat oder der Sturz von der Mauer. Spielt das eine Rolle? Sie schüttelt leicht den Kopf und versucht sich zusammenzureißen. Das alles hier erscheint so surreal. Wie in einem ihrer Bücher oder in den Filmen über die Kriege, die sie Zuhause sah.

Von der anderen Seite sieht sie Milo in Windeseile auf sie zustürmen. Er platziert sich sofort vor sie und blickt in geduckter Haltung nach rechts und links, als würde er mit einem Angriff aus allen Richtungen rechnen. Er verlässt ihre Seite erst wieder, wenn sie es ihm befiehlt. Immer mehr und mehr Männer stürmen hinter ihr in das Waffenlager und kommen mit Bogen, Macheten und Messern wieder heraus. Doch in Summe sind es gerade mal etwa zehn bewaffnete Männer, sie selbst eingeschlossen. Erst in diesem Augenblick wird ihr klar, wie klein die Gruppe eigentlich ist, in der sie sich hier befindet. Zum ersten Mal wünscht sie sich, dass es tatsächlich mehr wären.

THE OTHER SIDEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt