Kapitel 6

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Am dritten Abend sitzen sie gemeinsam um das Lagerfeuer, essen gekochten Feigenkaktus und rösten die Wurzel der Agave im Feuer. Rainn hat ihnen mittlerweile entlocken können, dass ihr Weg sie in Richtung Norden führt und sie in etwa fünf Tagen ihr Ziel erreicht haben werden. Fünf weitere Tagesmärsche auf dem Rücken dieses Höllentieres. Ihr Hintern schmerzt so sehr, dass sie vor dem Lagerfeuer auf dem Bauch liegt und an dem Fleisch des Kaktusblattes nagt, der ihr mittlerweile aus den Ohren heraus hängt. Der erste Bissen, vor drei Tagen, war gar nicht so übel gewesen. Säuerlich herb und bei den drückenden Temperaturen sogar etwas erfrischend. Da war es auch gar nicht so schlimm gewesen, dass sie sich bei der Zubereitung sämtliche Finger an den Stacheln aufriss. Erst nach dem vierten oder fünften Stück begann es in ihrem Magen zu rumoren. Der Kaktus schmeckte allmählich nach dem, was er auch ist; eine Pflanze. Nach bitterem Gras. Nach dem sechsten Stück am gestrigen Abend meldete sich zum ersten Mal der Würgereiz, trotz zuvor leerem Magen. Heute kann sie das Stück in ihren Händen kaum zum Mund heben, ohne, dass sämtliche Abwehrkräfte in ihrem Körper aktiviert werden.

Nicht zum ersten Mal bittet sie Selena am heutigen Tag darum, mit Milo jagen gehen zu dürfen, damit sie sich abends wenigstens einen Hasen grillen können. Doch sie scheint ihr noch immer nicht zu vertrauen. Selena und die anderen tun auch nichts, um das fehlende Vertrauen allmählich aufzubauen. Man fragt sie nicht einmal, warum sie überhaupt aus der Biosphäre 5 geflohen ist oder wie ihr Leben dort war. Und immer wenn sie ihre Begleiter nach ihrer Heimat befragt, bekommt sie entweder einen Spruch reingedrückt oder eine ausweichende Antwort. Es ist frustrierend und zermürbend, auch wenn sie ihr die Neugierde nicht vollkommen nehmen können. Rainn beobachtet die Gruppe ganz genau. Sie scheinen für das Überleben in der Wildnis wie geschaffen zu sein. Sie wissen, welche Pflanzen man essen kann und welche nicht. Conor findet in den Hügeln irgendwo immer Wasser, wenn Rainn glaubt, dass es in der staubigen Umgebung nicht mal einen Tropfen gibt. Erst zu diesem Zeitpunkt fällt ihr auch auf, dass die Klamottenfetzen, die sie am Körper tragen, auch ihren Sinn haben. Es sind Lagen voller Stoff, die sie am Tag nach und nach ausziehen, ohne sich der reißerischen Sonne vollkommen zu offenbaren. Rainn hingegen trägt ihre Wildlederjacke während der Nacht und ihr Leinenhemd am Tag. Ihre schwarze Lederhose fühlt sich tagsüber an, als würde sie mit ihrer Haut verschmelzen, so heiß werden ihre Oberschenken auf dem Pferderücken. In der Nacht jedoch friert sie manchmal so stark, dass ihre Zähne lautstark aneinanderschlagen. Wenn es einer ihrer Begleiter hört, dann ignoriert er es gekonnt.

Rainn beschwert sich nicht darüber, so wie sie sich über kaum etwas beschwert. Sie flucht höchstens mal leise vor sich her. Sie möchte Selena keinen Grund geben, sie als das verwöhnte Mädchen aus der elitären Blase abzustempeln, für das sie sie sowieso hält. Also erträgt sie die Hitze und die Kälte, schluckt den bitteren Kaktus hinunter und putzt sich die Zähne notdürftig mit Wasser und Sand, wenn niemand hinsieht. Und was den Geruch angeht? Eigenartigerweise wird dieser größtenteils von dem süßlich-bitteren Geruch der Pferde übertüncht. Ein Gestank, den Rainn am dritten Tag schon fast nicht einmal mehr wahrnimmt.

Rückblickend ist der Zusammenstoß mit Selenas Gruppe dennoch das Beste, was ihr passieren konnte. Auch wenn sie immer noch keinen Schimmer hat, was man von ihr will und Conors bedrohliche Worte weiterhin durch ihre Gedanken wabern. Aber die Anwesenheit der andere Menschen um sie herum lenkt sie ab und lässt sie an einem faszinierenden Leben teilhaben, welches sie bislang nicht für möglich hielt. Es lässt sie zudem die klaffende Wunde verdrängen, die der Verlust ihrer Familie in ihr hinterlassen hat und die sie ebenso ignoriert, wie die körperlichen Strapazen der Reise.

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„Ich kotze gleich." Rainn stöhnt nach dem letzten Bissen und wirft den Rest der Kaktusfrucht ins Feuer.

„Ist auch nicht gerade die gesündeste Esshaltung", entgegnet Conor, ohne von der Frucht in seinen Händen aufzusehen, die er eben noch bis zur Hälfte so gierig verschlang, als hätte er seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen. Anschließend wischte er sich schnaufend mit dem Handrücken den Mund ab und starrt seitdem auf die verbliebenen Reste zwischen den Fingern. Er wirft seine Reste ebenfalls in die lodernden Flammen, sieht kurz zu ihr hinüber und Rainn erkennt sehr wohl das Funkeln in seinen schmalen Augen, als er das sagt. Ein Funkeln, das nicht nur von dem Licht des Lagerfeuers kommt. Schatten tanzen über seine Gesichtszüge und in dem flackernden Schein wirkten seine Wangenknochen noch höher, die Kieferknochen noch breiter. Er hat keins dieser langweiligen Gesichter, die man nach dem ersten Hinsehen schon wieder vergisst. Er ist kantig und nicht das, was man unbedingt als Schönling in der Biosphäre bezeichnen würde. Doch je öfters sie ihn ansieht, umso mehr Kleinigkeiten fallen ihr auf. Wie die kleinen, feinen Narben auf seinem Handrücken und seiner Schläfe, den Lederfleck an seiner Wange oder die Art wie er durch seine strähnigen Haare blickt, als würde er auf etwas lauern. Einzig sein Körper wäre wohl das, wonach sich die einfach gestrickten Frauen in ihrer Heimat ohne jeden Zweifel die Finger lecken würden. Rainn ertappt sich immer wieder dabei, wie sie ihn verstohlen mustert, wenn er in der Mittagszeit seine Klamotten neu ordnet.

THE OTHER SIDEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt