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Samstag
25. September 2021, Sie

Als ich gestern die Nachricht gelesen hatte, war ich nicht sicher, ob ich sie richtig verstand. Ob es wirklich um die 27 Minute im Video ging. Doch als ich auf die Lichtung komme und einen schwarzen Raben sehe sind alle Zweifel wie verflogen. Dank der Luftaufnahmen ab der 27 Minute im Video, habe ich also tatsächlich den Weg hierher gefunden.

"Hab mich nicht verlaufen." ruft ich triumphierend und halte die Kamera hoch. "Dank der hier." Ein Schnabelklappen kommt von Raven.

"Danke auch für die schönen Aufnahmen. Ich musste leider etwas vorspulen, weil der Akku nicht für solange Zeit hält. Aber die Polarlichter waren der Hammer. Es hat sich fast so angefühlt, als wäre ich dort. Tja, irgendwann werde ich sie auch mit meiner Kamara aufnehmen."

Ich schweige. Ich hab so viele Fragen und nur ein Bruchteil davon konnte er als Rabe beantworten. Ein Seufzen verlässt meine Lippen. "Ich halte schon wieder Monologe. Dabei hatte ich eigentlich die Hoffnung, dass wir heute mal zur Abwechlung beide reden."

Ich blicke abwarten zu Raven rüber. Mit einmal breitet er die Flügel aus und erhebt sich in die Luft. Er dreht eine Runde um die Lichtung, dann verschwindet er im Wald. Doch im nächsten Moment kommt er wieder.

Sein Gefieder schillert in allen Farben des Regenbogens. Ich brauche einen Moment um zu begreifen, dass er kein Rabe mehr ist, sondern ein Papagei. Kann er sich also in verschiedene Vögel oder Tiere verwandeln?
"Ahoy, Matrosse." Ich war definitiv im falschen Film.

Gackernes Lachen kommt von ihm. "Dein Gesicht ist herrlich." Jetzt muss auch ich lachen: "Und deine Stimme erst." "Arr wusste ich's doch Landratten sind nicht an die liebliche Stimme eines echten Piratenvogels gewohnt." Ich pruste los. "Vom mystischen Magierraben zum plappernen Piratenvogel. Na das nenne ich eine beeindruckende Darbietung."

"Oh ich kann weit aus mehr. Gebt Acht! Lauschet nun den singenden Papagei." Gespannt halte ich inne. "Alle meine Entchen schwimmen auf dem See, schwimmen auf dem See, Köpfchen unter Wasser, Schwänzchen in die Höhe."

Begeistert applaudiere ich. "Zuugaabe! Zuugaabe!" Er hebt theatralisch die Flügel. "Haltet ein! Nun kommen wir zum großen Finale! Hier kommt Raven! Der große Verwandlungskünstler!"

Mit dem Satz fliegt er wieder eine Runde um die Lichtung und verschwindet hinter einem Baum. Zum Vorschein kommt ein Zebra, was wiehernd wie ein Pferd um die Lichtung gallopiert. Das nächste Tier was hinter den Baum hervor kommt ist eine Schlage. Sie richtet sich auf, wackelt mit dem Kopf, steckt die Zunge raus und verdreht die Augen. Ich muss wieder lachen und er lässt sich zurück ins Gras plumsen, um weiter zu machen.

Es folgen ein Orang-Utan, ein Flamingo und ein Erdmänchen, welche ich beinahe übersehen hätte, wenn ich nicht einige Schritte näher heran gegangen wäre. Doch dann löst sich eine anmutige schwarze Gestalt aus dem Schatten des Baumes und ich muss meinen Fluchtinstinkt unterdrücken.

Mit selbstbewussten und kraftvollen Schritten kommt ein Panther auf mich zu. Er umkreist mich wie seine Beute. In enger werdenen Bahnen lässt er mich nicht aus den Augen. Als der Abstand so klein ist, dass er mich berührt, schmiegt er sich an mich, wie eine Katze an ihren Kratzbaum.

Langsam hebe ich die Hand und fahre vorsichtig durch das seidig schwarze Fell. Schnurren ist die Reaktion und er setzt sich neben mich. Sein Fell ist so weich, dass ich gar nicht anders kann, als weiter hindurch zu wuscheln.

Gedankenverloren flüstere ich irgendwann: "Wer bist du wirklich?" Keine Antwort. Wie immer. Doch diesmal stört es mich nicht. Wir haben heute gemeinsam Zeit miteinander verbracht und auch wenn er keine einzige Frage, die mir auf der Seele brennt beantwortet hat, so hat er mich doch zum Lachen gebracht und ich habe die Zeit mit ihm sehr genossen.

Plötzlich steht er auf. In einer langen fließenden Bewegung ist er wieder hinter dem Baum verschwunden. Verdattert warte ich darauf, dass er auf der anderen Seite wieder hervor tritt. Doch es passiert nichts. Vorsichtig trete ich näher. "Alles in Ordnung?" frage ich und schaue langsam um den Baum.

Ich stoppe. Die Umrisse eines Mannes sind zu sehen. Er sitzt gegen den Baum gelehnt, die Beine an den Körper gezogen und fest umschlugen. Es reicht ein Blick in sein, im Schatten liegendes Gesicht und sofort ziehe ich mich zurück auf die andere Seite des Baumes. Langsam lasse ich mich am Baum herunter auf den Boden sinken. Die raue Rinde in meinen Rücken gibt mir Halt.

All diese Narben auf seinem Körper. Schon das erste Mal sind sie mir aufgefallen. Ich habe sie verdrängt gehabt. Doch sein Gesicht hat es mir erneut vor Augen geführt. Dieser Schmerz in seinem Gesicht. Er muss Schreckliches erlebt haben.

"Raymond Ragninson." weht der Wind Worte zu mir hinüber.

Raven - GefiederWo Geschichten leben. Entdecke jetzt