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Dienstag
24. August 2021
- Gegenwart -

Amy POV:

Ein Blick auf den Wecker genügt um zu wissen, dass ich viel zu früh wach geworden bin. Trotz dem Drang die zwanzig Minuten im Bett liegen zu bleiben, schwinge ich die Beine über die Bettkante und stehe auf.

Nach einer warmen Dusche und einem ordentlichen Schluck Kaffee fühle ich mich um einiges fitter. Ich überfliege die Zeitung, die Dad liegen gelassen hat. Finde aber nichts Spannendes. Schnell decke ich alles, was ich zum Frühstück gebracht habe wieder ab, schnappe mir Hausschlüssel und Handtasche, schon stehe ich draußen in der frischen Morgenluft.

Jeden Tag mit dem Rad zur Arbeit fahren zu können, ist ein Luxus, denn ich bis vor einem Jahr noch nicht hatte. Damals studierte ich im Norden des Landes und brauchte mit dem Zug von meiner kleinen heruntergekommen Wohnung bis zur Uni fast eine Stunde. Ich hatte mir eingeredet das Jura genau mein Ding ist, bis ich die ersten Prüfungen in den Sand setzte. Kurz darauf verstarb mein geliebter Wellensittich Bird und ich beschloss dass ich nicht mehr alleine dort oben bleiben wollte. Daraufhin folgte die 180° Wende in meinem Leben.

Zufällig hatte drei Wochen vorher Papa's Mitarbeiter Heike mitgeteilt, dass sie frühzeitig in Rente geht und er hatte noch keinen Ersatz gefunden. Es kam mir geradezu wie Schicksal vor. Schon immer fand ich Tiere toll und da Dad nichts dagegen hatte, hab ich als Tierartzhelferin bei ihm angefangen.

Ich bin dann wieder bei ihm eingezogen und da sein Haus nur gute acht Kilometer von der Praxis entfernt war, zog ich das Fahrrad dem Auto meines Vaters bei guten Wetter vor. Da für heute Nachmittag Temperaturen bis 24°C angesagt worden sind, genoss ich den noch kühlen Fahrtwind der mir entgegen kommt.

In ungefähr einer Viertelstunde bin ich da. Nur noch das kleine Stück durch den Wald und den Wiesenweg entlang, dann kann man das rote Backsteinhaus in der die Tierartzpraxis ist schon sehen. Als ich in das Wäldchen fahre, wird es gleich noch etwas kühler und kurz überlege ich, ob ich anhalte um meine Jacke aus dem Rucksack zu holen. Doch für die paar Meter lohnt sich das nicht. Das Klopfen eines Spechtes gegen das Holz lässt mich neugierig ihn die Bäume hoch schauen.

Doch statt eines Spechtes sehe ich einen Raben. Er hält seinen Flügel ungewohnt abgespreitz und scheint zu zittern. Ich halte an. Der Vogel sitzt auf einen niedrigen Ast nahe des Wegs. Langsam steige ich vom Rad und mache einige Schritte auf ihn zu. Da bemerkt er mich und verlagert unruhig das Gewicht. Zwei Schritte schaffe ich noch, ehe es ihm zu heikel wird und er sich vom Ast abstößt.

Ein schriller Schrei entfährt dem Tier, als es seine Flügel bewegt. Dann fällt er wie ein Stein vom Himmel. Ich laufe los. Gerade als der Rabe sich aufrappeln will, packe ich ihn. "Hab dich!" Schreiend und zappeln versucht er sich zu befreien. Doch das scheint seiner Wunde nur zu vergrößern, denn warmes Blut läuft mir über die Finger.

Ich hetze zum Rad und schupse mit dem Ellbogen meine Tasche hinunter. Sie öffnet sich und die Jacke purzelt heraus. Zum Glück hab ich sie nach oben gelegt. Ich wickel den Raben darin ein, klemme die Tasche zurück auf den Gepäckträger und mache mich im Eiltempo auf zur Arbeit.

***

"Dad, komm schnell! Ich hab hier ein Notfall, um den wir uns sofort kümmern müssen!" rufe ich, noch bevor sich die Tür hinter mir geschlossen hat. Ich eile in den ersten Behandlungsraum und gleich darauf kommt "Was ist denn los?" zurück.

Kaum dass er den Raum betreten hat, erkläre ich ihm schnell: "Den kleinen Kerl hier hab ich im Wald, auf dem Weg hierher gefunden. Wir müssen uns schnell seine Wunde angucken. Dadurch dass er nicht still halten will, wird es immer schlimmer. Er muss umbedingt-"

"Aua!" ich lass den Raben fallen. "Dieser blöde Vogel hat mich gebissen." Das panische Tier wirft die Jacke ab und flattert kreischend weg, doch Dad kriegt ihn noch zu fassen. "Bereite das Nakosemittel vor. Ohne dass wir ihn ruhig stellen, wird das nichts."

Ich ignoriere meinen blutenden Finger und bereite die Spritze vor. "Am Besten du spritzt es ihm in den Hals. Das geht am Schnellsten." Dad drückt das Tier auf die metallenden Tisch fest, sodass ich die Spritze in das Gefieder stechen kann.

Kaum dass die gesamte Flüssigkeit im Blut des Raben ist, wird sein Kampf immer kraftloser. Ein letzter verzweifelter Hilferuf, dann schließen sich seine Augen und der Körper erschlafft. "Na endlich." rutscht es mir raus. Dad dreht den Vogel auf den Rücken und bereitet den verletzten Flügel aus. "Das muss auf jeden Fall genäht werden." murmelt er.

Während ich mir ein Pflaster um den Finger wickle, säubert Papa die Wunde. "Was zum Teufel?" kommt es von ihm. "Was ist?" "Das Gefieder verschwindet." Verwirrt über die Antwort schaue ich ihm über den Rücken.

Tatsächlich. An immer größer werdenden Stellen verlieren die Federn an ihrer schwarzen Farbe, werden dünner und kürzer bis sie nicht mehr zu sehen sind. Gleichzeitig verformt sich auch der gesamte Körper des Rabens. Der Kopf und Körper wird größer. Die Beine und die federlosen Flügel werden dicker und länger. Als die Verwandlung zu Ende ist, bekommt keiner von uns ein Wort heraus.

Wir schauen nur sprachlos in das schlafende Gesicht eines jungen Mannes.

Raven - GefiederWo Geschichten leben. Entdecke jetzt