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Samstag
28. August 2021, Sie

Nachdem ich gestern Abend wieder eine lautstarke Diskussion mit meinem Vater zu unserem Pflegepatienten hatte, muss ich hier heute einfach raus. Ich nehme zwei Toastscheiben aus der Tüte und fülle ein Glas mit Wasser, dann gehe ich zum Gästezimmer.

Heute sieht er noch schlechter aus, als gestern. Er scheint zwar den eingewickelten Flügel in Ruhe gelassen zu haben, aber dafür hat er sich jede Menge Federn gerupft. Ich fülle die Schale und lege ihm den Toast daneben. "Was hältst du von einem Ausflug?" fragte ich ihn spontan. Er schaut überrascht auf. "Ich habe die ganze Woche gearbeitet. Ich könnte etwas Erholung gebrauchen und du siehst so aus, als würde es dir nicht anders gehen." Verärgertes Krächzen. "Na gut, ich nehme das Letzte zurück. Aber das Angebot steht und wenn du mit willst, geht es in zehn Minuten los." Als ich den Raum verlasse, kann ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Er wird dazu nicht Nein sagen, da bin ich mir sicher. Ich weiß zwar überhaupt nichts über ihn, aber jeder Trottel könnte sehen dass er unglaublich unter Stress steht. Denn die Federn rupfte er sich gewiss nicht nur aus Langeweile. Viel mehr musste ihn die Angst, dass Dad oder ich ihn an die Polizei verrate dazu treiben. Ich verstehe bloß nicht, warum er sich nicht einfach in einen Menschen verwandelt und einfach davon spaziert? Mir fällt wieder ein, dass es bei meiner Frage danach so zusammen gezuckt ist. Aus irgendeinem Grund schien er also lieber in diesem Zimmer als Rabe gefangen, als die Gestalt eines Mannes anzunehmen.

Während ich meinen Rucksack mit Verpflegung packe, grübel ich weiter über ihn nach. Was ist, wenn er nur auf so eine Gelegenheit gewartet hat, um abzuhauen? Ich schüttel den Kopf. Ich sollte mit darüber keine Gedanken machen. Wenn er merkt, dass ich ihm vertraue das er nicht abhaut, dann wird er mir vielleicht auch vertrauen das ich ihn nicht verrate. Dann würde er gewiss auch schneller wieder gesund werden.

Pünktlich bin ich zurück und werde bereits ungeduldig von ihm erwartet. "Und willst du mit raus an die Luft?" Als Antwort geht er nur zur Tür. "Vorher stelle ich aber noch eine Regel auf, sonst bleibt es bei diesen einen Ausflug." Sofort habe ich seine Aufmerksamkeit. "Es wird nicht geflogen oder der Flügel in irgendeiner Weise belastet. Verstanden?" Ein kurzes Krächzen und das heben des verbunden Flügel, soll wohl soviel heißen wie: 'Fliegen ohne Flügel, wie soll das gehen?'

"Na gut. Dann darfst jetzt offiziell als Copilot auf meiner Schulter Platz nehmen. Nicht das ich dich bei der Fahrradfahrt verliere." Ich halte ihm die Hand hin und nachdem er raufgehüpft ist, hebe ich ihn hoch zu meiner Schulter.

"Tue mir bloß den Gefallen und sei leise, bis wir draußen sind. Wenn mich Dad dabei erwischt wie ich dich entführe, war es das." Zustimmendes Schnabelklappern, dann geht es los.

***

"Ey! Was soll das? Ich kann so nicht fahren." Ich bremse und bleibe stehen. "Was ist den los, das du mir gleich das ganze Ohr abbeißen musst?" Aufgeregtes Krächzen und Flügelschlagen ist die Antwort. "Sorry, aber ich kann kein Rabisch. Hast du irgendwas gesehen oder soll ich umkehren?"

Im nächsten Moment springt er von meiner Schulter und rennt in den Wald hinein. "Hey! Hiergeblieben!" Ich lasse das Rad fallen, schnappe mir mein Rucksack und laufe hinterher. Ich kann zwar aufholen, aber durch das Gestrüp verliere ich sofort wieder an Abstand. Doch sein Krächzen gibt mir Orientierung wohin er ist.

Plötzlich stehe ich mitten auf einer Lichtung. Der Rabe schaut mich triumphierent an. "Gut, das Wettrennen geht an dich." schnaube ich außer Atem. "Jetzt brauche ich erstmal Wasser."

Nach mehreren Zügen aus der Wasserflasche bin ich wieder einsatzbereit. "Was ist mit dir? Willst du auch was trinken?" Kopfschütteln. "Lass mich raten. Für dich war das nur sowas wie das Aufwärmtraining. Tja dann musst du ohne mich weiter. Ich mache jetzt hier Picknick. Dieser Ort lädt gerade zu danach ein."

Ich setze mich auf meine Jacke und hole die Tüte mit den selbst geschmierte Schnitten raus. "Und was ist mit Essen? Willst du immer noch nichts?" frage ich und angle mir eins mit Käse. Provokant beiße ich ab und meine: "Mmm lecker." Er kommt zu mir und zieht sich ebenfalls eins aus der offenen Tüte.

Während wir genüsslich essen, fällt mir wieder was ein. "Sag mal wie heißst du eigentlich? Ich meine ich kann dich ja nicht nur Rabe nennen." Keine Antwort. "Ja schon klar, hab vergessen dass du nicht jede Frage beantwortest. Na dann muss ich mir wohl ein für dich ausdenken. Hmm mal überlegen..." Ein schuldbewusstes Krächzen ist die Antwort und er schaut mir in die Augen. Was er mir damit sagen will, ist mir ein Rätsel.

"Ich nenne dich einfach Raven. Das heißt zwar übersetzt auch Rabe, ist aber gleichzeitig auch ein anerkannter Name in England." Da keine Wiederworte kommen, stehe ich auf und meine: "Nach dir Raven. Ich folge dir wo immer du mich jetzt auch hinführst." Er legt den Kopf leicht schräge und schaut mich fragend an. "Das war mein Ernst. Ich habe keine Ahnung, wo wir gerade sind." Verlegen lache ich auf. "Falls du also beschließen solltest mich hier sitzen zu lassen und abzuhauen, dann werde ich hier eledig verhungern und verdursten."

Schnabelklappern ist die Antwort und diesmal ist es wohl eher als schallendes Lachen zu verstehen. Denn er scheint kurz davor, sich vor Lachen über den Boden zu kullern.

Früher als erwartet beruhigt er sich wieder und marschiert schnurstracks in den Wald. "Aber bitte nicht in der selben Geschwindigkeit, wie auf dem Hinweg." meine ich noch, dann setze auch ich mich in Bewegung.

Raven - GefiederWo Geschichten leben. Entdecke jetzt