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Mittwoch
25. August 2021
- Ein Tag später -

Er POV:

Es fühlt sich an wie aus einem Sumpf heraus zu steigen, als ich die Welt der Träume verlasse. Langsam, zäh und matschig. Der erste klare Gedanke der mir kommt ist: 'Du musst dich verwandeln!'

Instinktiv weiß ich, dass ich gerade nicht die Gestalt habe, die sie von mir erwarten. Ein kurzes Ziehen der Muskeln, Knochen und Gelenken, dann ist alles so wie vorher. Mit einem Unterschied.

Der Verband ist nun viel zu groß, sodass er lose um meinen Flügel hängt. Aber was interessiert mich das schon. Ich muss hier raus. Ich schleppe mich zum Kopfende und versuche über das Kissen zum Fensterbrett zu gelangen.

Ein beherzter Sprung und Flügelschlagen bringt allerdings nicht das gewünschte Ergebnis. Mit einen lauten Krachen lande ich auf dem Nachtisch. Dabei bleibt der Verband an der Nachtischlampe hängen. Sie fällt um und reißt mich mit zu Boden.

Die Tür wird aufgerissen und das Mädchen, was mich im Wald gefangen hat, stürtzt herein. Als ihr Blick zu mir wandert, entspannen sich ihre Gesichtszüge wieder. "Da kann wohl wieder jemand nicht still halten, was?!" Sie kommt auf mich zu und ich fühle mich in meiner jetzigen Situation ihr völlig ausgeliefert.

"Wehe du beißt wieder, dann kannst du gefälligst selbst in ein Krankenhaus fahren." kommt es von ihr, bevor sie sich zu mir kniet und sich vorsichtig daran macht, mich zu befreien. "Deinetwegen hatte ich Streit mit meinem Vater. Er wollte die Polizei rufen und denen von einem Raben, der sich in einen nackten Mann verwandelt erzählen."

Ich muss schlucken. Wenn die Polizei von meinen Fähigkeiten Wind bekommt, lande ich schneller als ich Gucken kann in irgendwelchen Forschungslaboren. "Zum Glück konnte ich ihn davon überzeugen, dass wir erstmal mit dir sprechen sollten, bevor wir mit irgendwem über gestern reden." Überrascht schaue ich auf. Sie wollte mit mir reden, obwohl ich kein gewöhnlicher Mensch war?

Mit einmal sackt mein Flügel zu Boden. Ich rappel mich auf und bringe sofort Abstand zwischen uns. "Ich finde ein Dankeschön wäre angebracht. Aber da du wieder ein Rabe bist, kann ich wohl keins erwarten, oder?"

Sie legt ihren Kopf schräg und schaut mich forschend an. "Wieso bist du eigentlich nicht Mensch geblieben?" Unbewusst verkrampfe ich mich bei dieser Frage. Überrascht zieht sie ihre Augenbrauen nach oben. Doch sie erwidert nichts auf meine Reaktion und meint stattdessen: "Na komm her. Ich lege dir den Verband wieder richtig an."

Ich rühr mich keinen Zentimeter. "Ich tue dir nichts. Versprochen." Geduldig wartet sie. "Der Verband muss wieder rum, sonst kann die Naht nicht richtig verheilen und das Risiko für Folgeschäden steigt. Im schlimmsten Fall wird dein Flügel dann nie wieder gesund und du wirst ihn nie wieder zum fliegen nutzen können." Der letzte Satz hat mich überzeugt. Nie wieder fliegen zu können, wollte ich auf keinen Fall riskieren. Bereitwillig gehe ich zu ihr und sie bindet den Verband neu.

"So fertig." sagt sie und steht wieder auf. Sie wendet sich zur Tür, doch sie dreht sich nochmal um und sagt: "Ganz ehrlich: Wenn jemanden verletzt ist, ist es mir scheiß egal was er ist. Selbst wenn du ein Außerirdischer, ein Mutant, ein Magier oder weiß der Kuckuck was bist, ich würde mich immer um deine Wunden kümmern." Ein Lächeln schiebt sich auf ihr Gesicht. "Dass heißt aber auch, ob du es willst oder nicht, solange du nicht kerngesund bist, werde ich dich nicht gehen lassen."

Die Tür schließt sich, doch ich starre weiter auf die Stelle wo sie eben noch gestanden hat. Meint sie das wirklich ernst?




Donnerstag
26. August 2021
- Ein Tag später -

Ich sitze gerade auf der Fensterbank und schaue raus, als sich die Tür öffnet. Ich habe es heute tatsächlich hier hoch geschafft. Da ich einen Ort zum Nachdenken brauche, scheint dieser mir am Geeignetsten. Hier konnte ich mir wenigsten einbilden, ich bin auf der anderen Seite der Glassscheibe in Freiheit.

"Tut mir Leid, dass ich jetzt erst Zeit finde dir Essen zu bringen." sagt sie und kommt zu mir. Sie stellt eine Schale Wasser neben mir ab und zerbrösselt zwei Brotscheiben. "Wir hatten gerade eine anstrengende OP. Eine Katze hat sich mehr oder weniger die halbe Lunge aufgespießt. Besser ich gehe nicht in die Details, sonst verderbe ich dir noch den Appetit. Also lass es dir schmecken. Ich muss auch gleich wieder. Mittagspause ist fast rum."
 


Freitag
27. August 2021
- Ein Tag später -

Mir ist so langweilig und zu allen Überfluss juckt auch noch die Wunde an meinem Flügel. Nachdem ich gestern den Verband abgekratzt habe, hat sie ihn diesmal zusätzlich mit einem Tuch umwickelt. Jetzt ist mein Flügel so schwer, dass ich es nicht rauf zum Fenster schaffe.

Zerstreut richte ich mein Gefieder. Wie lange es wohl dauert bis mein Flügel verheilt ist? Ein sehnsüchtiger Blick zum Fenster. Heute ist der Himmel grau und es regnet. Kein schönes Wetter für einen Menschen. Doch wenn ich raus könnte, würde es für mich gerade kein schöners Wetter geben.

Raven - GefiederWo Geschichten leben. Entdecke jetzt