Kapitel 35 | Flora und Fauna

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"Wach auf, verdammt nochmal!"

Eine verzweifelte Stimme, Geschrei und Gerüttel weckte sie.
Verschlafen rieb sich Ori die Augen und setzte sich auf.
Neben ihr saß Zaeith, verzweifelt die schreiende Alynas in den Armen.
Nur leider komplett falsch.

"Endlich bist du wach!" Zaeith drückte ihr das kleine Mädchen sofort in den Arm. "Sie schreit schon eine ganze Weile und ich weiß nicht, was los ist..."

In genau dem Moment knurrte Alynas' Magen und entlockte Ori nicht nur ein herzliches Lachen, sondern Zaeith auch ein tiefrotes Gesicht.

Nachdem sie sich beruhigt hatte, setzte sie sich auf, legte Alynas vorsichtig auf ihren Schoß und schob ihr Oberteil ein wenig hoch, um Alynas das Trinken zu ermöglichen.
Zaeith wandte verlegen seinen Blick ab.

"Jetzt ist sie still.", murmelte er nach einer Weile.
"Ich nehme an, 'stillen' heißt nicht stillen, wenn das Kind danach nicht wirklich still wäre, oder?", scherzte Ori, zog ihr Oberteil wieder nach unten und beugte sich vor.
Zaeith warf ihr einen kurzen Blick zu, starrte dann aber durch das Erkerfenster nach draußen.

Tiefgrüne, fast türkise Blätter wehten, bewegt von einer sanften Brise, hinter den getönten Scheiben.
Das Licht des anbrechenden Morgens wurde so auf dem hölzernen Boden ständig verändert.

Zaeith starrte es an...bis nebenan ein geschrienes "Nein!" ertönte.

Sofort sprangen die beiden auf, Ori legte Alynas noch schnell ab, was das Mädchen nicht zu stören schien.
Im Wohnzimmer angekommen fanden sie einen verschwitzten Alath auf, der aufrecht auf dem Sofa saß.
Als sein Blick auf sie fiel, stand ihm das Entsetzen ins Gesicht geschrieben.
Das Fluchkind sprang auf und umgriff Zaeiths Arme so fest, dass seine Fingerknöchel weiß herausstanden.

"Sind wir hier im Jenseits?", war seine erste Frage.
"Bitte?" Ori wich irritiert einen Schritt zurück.
"Das Jenseits! Ich war dort! Und ihr auch!", rief Alath und schnappte nach Luft, die er nicht brauchte. "Der Himmel war ein Mahlstrom und da war ein merkwürdiges Wesen, das- "
"Alath!", unterbrach Zaeith ihn scharf und der Angesprochene wich zurück und ließ sich aufs Sofa fallen. "Das hier ist nicht das Jenseits!"
"Wir zeigen dich gerne herum, haben eine nette Flora und Fauna in der Umgebung hier.", schlug Ori vor. "Und auch genügend Wasserquellen, wenn du dich waschen willst."

Alath nickte nur schwach, deutete auf Alynas und kam wackelig auf die Füße.
Ori nahm das kleine Kind und Zaeith half Alath auf den Füßen zu bleiben.

Überraschenderweise führte der Anführer der Fluchkinder seinen Freund auf den Balkon.

Dass er sprang, war jedenfalls nicht überraschend.
Ori folgte ihm mit den beschwörten Leerenschwingen.

Als sie unten ankam, warteten die beiden Fluchkinder bereits auf sie, wenn auch mit dem Rücken zu ihr.
Sie standen vor dem gepflegten Teich in der Mitte des Dorfes und starrten auf das Wasser.
In ebendiesen spiegelten sich merkwürdige Bilder von ihnen wider.
Zaeiths sah aus wie ein Blutelf, der an an verschiedenen Stellen - vor allem dort, wo innere Organe am leichtesten zu erreichen waren - fellbesetzt war, doch das Fell war tiefschwarz und ließ so auf kein bestimmtes Wesen vermuten.
Alaths Spiegelbild ähnelte überraschenderweise mehr einer Mischung aus Nachtelf, Blutelf und Troll.

Zaeith griff an seine Brust und zuckte zusammen, als er wider Erwarten nur nackte Haut spürte.

"Gehen wir?", versuchte Ori die Zwei abzulenken. Erfolgreich.

Die beiden wandten sich ab und folgten Ori aus dem Dorf, wo sich in und unter den Bäumen Fluchkinder niedergelassen hatten.
Die, die verarztet wurden, saßen zwischen den mächtigen Wurzeln, die hingegen, die bereits voller Verbände und sonstigem Erste-Hilfe-Zeugs waren, lagen in selbstgebauten Nestern oder Plateaus in den Astgabeln und schliefen.

"Sie wollten nicht in die Wohnungen.", sagte in der Nähe Filian zu einer anderen Sanitäterin, die erkennbar war an der typischen Lederbekleidung. "Sie verabscheuen den Luxus, aber manche müssen in geschlossene Räume..."
"Höhlen würden sie akzeptieren.", mischte Zaeith sich ein. "Besonders unter Bäumen, und von denen haben wir hier genug."
"Aber wo kriegen wir die Höhlen her?", stellte Filian die Gegenfrage. "Es würde uns Ewigkeiten kosten, um überhaupt nur für einen eine kleine zu graben!"
"Das erledigen Alath und ich." Zaeith sah seinen Freund fragend an, der nickte nur. "Mit Berserker wird das ein Kinderspiel. Aber..." Verschwörerisch dreinblickend griff er die oberste Sanitäterin an den Schultern. "...es ist doch niemand in Lebensgefahr oder wenn doch, wer alles?"
"Bis jetzt nicht. Warten wir, ob sich etwas entzündet oder jemand eine schleichende Krankheit hat, dann ändere ich meine Aussage noch."
"Dann kontrolliere es gefälligst!", knurrte Zaeith ungehalten und ließ von ihr ab, um sich wieder dem Weg aus dem Dorf zuzuwenden.

Sie erreichten gerade den Waldrand, da hörten sie auch schon den Ruf nach haargenauen Untersuchungen an denen, die wohl in geschlossene Räume gehörten, von Filian.
Alath grinste, der Anblick seinesgleichen hatte ihn wohl beruhigt.

"Na dann." Zaeith stemmte die Hände in die Hüften. "Mal sehen, wie wir uns zurechtfinden. Ich war jedenfalls noch nie hier."
"Dafür bist du aber erstaunlich zuversichtlich.", bemerkte Alath und Alynas gluckste leise vor sich hin.
"Das nennt sich Abenteuergeist!", grinste Zaeith und erntete einen scherzhaften Knuff in die Seite, was beide Fluchkinder zum Lachen brachte.

Ori schmunzelte und folgte Zaeith, als er endlich weiter in den Wald trat.
Er war weder dicht noch unordentlich zugewachsen, nein, interessanterweise gab es kein Unkraut.
Selbst die Wildrosen waren dornenlos...

"Brauchen die keine natürliche Abwehr?", fragte Alath überrascht und atmete den Duft einer blutroten Rose ein.
"Katlynn meinte einmal, auf Nyanien hat es nie Krieg gegeben, das bezieht sich eventuell auch auf die Pflanzenwelt.", erwiderte Ori leise.
"Und wie ernähren sich dann die Tiere?"
"Thanduril hat da mal nachgefragt. Angeblich ziehen sie ihre Energien aus der Magie, die überall um uns ist - Nyanien ist da reicher als Azeroth - und wandeln diese in die nötigen Nährstoffe um." Zaeith bedeutete ihnen leise zu sein und zeigte auf eine Herde interessanter Mischwesen.

Sie sahen aus wie Hirsche, wie Malorne, doch sie waren bedeckt von Wolfsfell, was sie zottelig und süß aussehen ließ, doch als eines der Wesen seinen Kopf hob und zu ihnen sah, schreckte Ori kurz zurück.
Es hatte ein recht kleines Gebiss, ausgestattet mit Haizähnen, und reptilische grüne Augen.
Als jedoch keine Gefahr von ihnen auszugehen schien, wandte es sich seinesgleichen zu, die alle den Anschein erweckten, zu grasen, doch sah man genauer hin, erkannte man, dass ihre Mäuler bloß über den Halmen schwebten und grünliche Funken in sie gesogen wurden.

"Interessant...", bemerkte Alath und strich sich nachdenklich übers Kinn. "Verwunderlich, dass sie mit so einem Gebiss Pflanzenfresser sind."
"Na ja, wenn sie Fleischfresser wären, müssten sie ja anderen Tieren etwas aussaugen und das spricht offenbar gegen Nyaniens Natur.", erwiderte Ori leise und zeigte nach links. "Gehen wir nach dort?"
"Warum nicht?", stimmte Zaeith achselzuckend zu und ging in die Richtung.
Die Köpfe der Herde folgten ihnen noch eine ganze Weile, doch nachdem sie eine Baumgruppe passierten sahen weder sie die Herde noch andersherum.

Stattdessen offenbarte sich ihnen ein wunderschönes Tal, dass in nicht allzu weiter Ferne in Berge überging.
Violette Blüten wogten durch eine warme Brise bewegt vor ihnen, ab und an unterbrochen von einem Fluss, der sich im wahrsten Sinne des Wortes durch das Tal schlängelte, und ein paar steinigen Hügeln, auf denen sich ein Rudel schwarzer Wölfe niedergelassen hatte und die warmen Sonnenstrahlen genoss.

"Wenn doch auch Azeroth so friedlich wirken könnte...", wisperte Ori und Zaeith legte ihr einen Arm um die Schultern, zog sie näher zu sich und schmiegte sein Gesicht an ihres.
"Nyanien ist jetzt unsere Heimat.", sagte er leise. "Wir müssen nie mehr zurück nach Azeroth."
"Zum Glück.", fügte Alath kaum hörbar hinzu.

Und leider, mit einem Blick auf Alynas, musste Ori ihm recht geben.
Es war besser für sie alle.

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