ES fühlt sich komisch an diesen Brief zu schreiben, da du ihn niemals lesen wirst.
Denn Lesen ist nicht so deine Art. Das war sie noch nie.
Ich kenne dich seit deiner Geburt. Damals war ich noch ein einjähriges Kleinkind, gerade dem Kinderwagen entwachsen, zu jung und zu unentwickelt um mich an etwas zu erinnern.
Es war auch in meinem Kleinkindalter, als ich angeblich Leukämie und später noch die Pocken hatte. Weder das Eine noch das Andere hat im Endeffekt gestimmt. Aber egal was für eine Krankheit sie meiner Mutter im Krankenhaus aufgetischt hatten, deine sonst so ängstliche Mutter ließ dich trotzdem zu mir. Denn wir gehörten damals zusammen wie Pech und Schwefel.
Deinem Vater gehört unsere Lieblingskneipe, die mittlerweile auch schon einmal umgezogen ist, doch das war letztlich zu unserem Vorteil.
Wir waren die größten Entdecker, die die alte Stadtmauer je sah.
Spielten in den giftigen Eiben als wären es Ahornbäume, hangelten uns von Ast zu Ast als wären wir leicht wie eine Feder. Doch das waren wir nicht, denn am Ende jedes Abends lagen wir mit aufgeschürften Knien am Boden der Tatsachen. Unsere Hände ganz erdig. In unseren Gesichtern ein Lächeln. Am nächsten Tag kletterten wir wieder.
Zwischendurch bestellten wir uns kaltes Hühnchen und geriebenen Käse, stopften ihn in Strohhalme und quetschten die Pampe danach wieder heraus. 'Rouladen' haben wir unser Kunstwerk genannt, kein anderer Name kam in Frage.
Du warst Samira Star und ich Anna Aqua. Zusammen unschlagbar.
Mit fünf hab' ich dir meine Disney-Tapete abgetreten, sie hängt heute noch in deinem Zimmer.
Mit sechs haben wir uns in meinem Zimmer versteckt und du hast mir die Haare geschnitten. Raspelkurz und ungleichmäßig, mit dieser stumpfen Bastelschere. Ich sah fürchterlich aus und ich genoss es.
Mit sieben bist du auch eingeschult worden. Endlich, dachten wir uns, eine weitere Erfahrung, die wir teilen konnten. Natürlich hast du in der Kneipe gefeiert, genau wie ich ein Jahr zuvor. Aber wir sind nie auf dieselbe Schule gegangen.
Mit acht war ich in der dritten Klasse und meine Mutter hat mich in den Umzugswagen gezogen. Du hast mich an dem Tag nicht mehr gesehen, aber ich wurde ohnmächtig als wir am Abend ankamen. 800 Kilometer trennen uns doch nicht. Oder doch?
Obwohl du ein Jahr jünger bist, kam es mir vor vier Jahren so vor, als wärst du viel älter als ich. Kaum hatte ich an deiner Haustür geklingelt, sah ich kein Kind, sondern eine Erwachsene. Erst 13, schoss es mir durch den Kopf. Ich war 15. Du hast schließlich erst nach mir Geburtstag.
Du hast viel Alkohol getrunken, wolltest mit mir unbedingt das erste Mal kiffen. So wie wir es früher immer gemacht haben. Alles zusammen entdecken. Aber das geht nicht mehr, nicht wahr Samira?
Es ist eine ganze Strecke von Zuhause bis hier her. Ich bin sie schon viel häufiger gefahren als du...
Einmal bist du mich besuchen gekommen, das ist glaub ich drei Jahre her, doch danach kamst du nie wieder.
Warum nicht Samira? Warum nicht?
Ich hörte mir an, wie du es nicht wolltest bei deinem ersten Mal, hörte mir an, wie dich all diese Arschlöcher nach und nach betrogen und wieder verließen, genauso schnell wie sie an dich herausgekrochen kamen mit ihren gierigen Händen.
Und ich schrieb immer zurück: Ja, natürlich, will auch feiern gehen, Typen treffen, schon klar, nicht zu viel Alk...
Es war gelogen.
Ich hätte schreiben sollen: Ich vermisse dich. Zusammen unschlagbar.
Das wäre die Wahrheit gewesen.
Aber wir beide haben es wohl nicht so mit der Wahrheit.
Ähnlich wie du und dein Hass auf Bücher und das Lesen an sich.
Vielleicht antwortest du deswegen nicht auf meine Postkarte:
Weil du sie einfach nicht lesen willst.
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𝒜𝒷𝓈𝒸𝒽𝒾𝑒𝒹𝓈𝒷𝓇𝒾𝑒𝒻𝑒
Teen Fiction❞ Es fühlt sich komisch an diesen Brief zu schreiben, wohlwissend, dass du ihn niemals lesen wirst. Denn Lesen ist nicht so deine Art. Das war sie noch nie. ❝ 18 Jahre, 18 Briefe und ein Nachruf; Ein Mädchen nimmt Abschied von ihrer Kindheit und...