№. 8 ✉『 Frau S. 』

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SIE waren meine Klassenlehrerin in der vierten Klasse.

In einem kleinen Vorort einer fast ebenso kleinen Kleinstadt haben Sie mich erwartet, mit verschränkten Armen, und haben mich in Ihre Klasse aufgenommen als ich gerade die Zeit in Lindau hinter mir hatte.

Meine blaue Regenjacke...


Ich war so schüchtern, Sie hielten mich für dumm.

Ich war so schüchtern, ich ließ Sie mich für dumm halten.

Ich redete nie viel mit den Leuten aus meiner Klasse, verschloss mich und warf den Schlüssel weg.

Einzig und allein ein paar meiner neuen Nachbarn, von denen auch zwei in meine Klasse gingen, schafften es mich irgendwie aus der Reserve zu locken.

Trotz all eurer Makel, Blanca und Alisa: Danke dafür.


Sie hielten mich für dumm, Frau S. und ich kann es Ihnen nicht übelnehmen.

Aber irgendwie doch.

Meine Mutter konnte Sie nicht ausstehen, weil Sie ihr beim Elternabend davon abgeraten hatten mich auf ein Gymnasium zu schicken. Sie meinten, ich würde es nicht schaffen.

Das hat mir meine Mutter erst Jahre später erzählt, da hatte ich die fünfte Klasse des Gymnasiums schon längst hinter mir.


Wissen Sie, wer die fünfte Klasse mit einem Notendurchschnitt von 1,4 und einem zusätzlichen Preis abschloss?

Das war ich.

Wissen Sie, wer mir zusätzlich das Gefühl vermittelte, ungewollt und unnütz zu sein?

Das waren Sie.

Wissen Sie, wer mich ermutigt und sich Zeit für seine Mitmenschen genommen hat? Wer mir aufrichtig helfen wollte und es trotzdem nicht schaffte? Wer die Lage erkannte und mich nicht von Anfang an als dumm, sondern als unter einem Trauma leidend abgestempelt hat?

Das waren nicht Sie.

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𝒜𝒷𝓈𝒸𝒽𝒾𝑒𝒹𝓈𝒷𝓇𝒾𝑒𝒻𝑒Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt