Kapitel Dreizehn

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Kira wusste nicht, wieso sie das Klavier im Dunklen nicht erkannt hatte. Heute aber, als sie aufgewacht war, war es das Erste, was ihr in den Blick fiel. Sie hatte Hunger, war durstig, (musste mal) aber konnte sich nicht dazu bringen, den Blick von den weiß/schwarzen Tasten zu lassen.

"Du spielst so schön! Spiel weiter!"

"Mama? Mama, was ist? Warum spielst du nicht mehr?"

Mama würde nie wieder spielen können. Jiki hatte es ihr erklärt, als er sie gefunden hatte. Sie hatte geheult, geschrien, sich sehr unartig und selbstsüchtig verhalten. Wenn man schrie, brachte man andere in Gefahr. Wenn man weinte, anfing zu schluchtzen, brachte man andere in Gefahr. Nur wenn man fröhlich war, lachte und den Mund hielt, konnte man in dieser grausamen Welt überleben. Jiki hatte gesagt, Weinen wäre schlecht. Wer leben wollte, durfte nicht weinen. Sie wollte leben, also durfte sie nicht weinen! Nai weinte oft, es tat ihm immer wieder leid. Blöder Nai! Warum weinte er so oft? Sie wollte ihn weinen hören, ihn lachen hören. Ihn überhaupt hören. Die rot Haarige versuchte ein paar Mal sich hochzurappeln, stand schließich auf den Beinen. Das Regal von Gestern, war heute ein Klavier. Am Abend wäre es sicher wieder ein Regal, dann könnte sie Weiß und Schwarz nicht mehr unterscheiden. Ob sie wohl spielen konnte? Sie würde heute niemanden in Gefahr bringen, wollte unbedingt was hören. Nur einmal, ganz kurz. Jiki konnte nicht sauer werden. Miku würde nicht mit ihr schimpfen. Nur ganz kurz. Sie hob eine Hand, legte sie auf den weißen Tasten ab, drückte zu. Einmal. Noch einmal. Eine andere Taste. Ein neuer Ton. Beide Hände. Ganz leise, dann lauter. Es machte wirklich spaß, obwohl sie immer noch Hunger hatte. Krach war nicht gut. Aber es machte Spaß. Es passierte auch nichts. Wenn sie oft genug übte, würde sie sicher bald eine großartige Spielerin, hatte Mama gesagt. Sie könnte es heute endlich machen, dieses "Üben".
Doch gerade als sie ihre Hände hochgehoben hatte, sie erneut auf dem Instrument fallen lassen wollte, wurde sie weg vom Klavier gezogen, zu Boden geschmissen.
"Lass das."
Der falsche Nai war wieder da, schaute wütend und ganz anders als der echte Nai aus, als er selbst anfing zu spielen. Es klang viel schöner, als das Üben von ihr. Als würde Mama spielen. Sie war sich sicher, das schon mal gehört zu haben.
Der weiß Haarige spielte lange weiter, sie hatte sich neben ihn gestellt, sah zu.
Ihr Magen knurrte, ihre Kehle juckte. (Sie musste wirklich mal.)
Plötzlich hörte er auf, sah mit falschen Augen auf sie runter.
"Spiel nie wieder da drauf."

"Wegen dir ist Mama zusammengebrochen! Nur wegen dir und deinem blöden Klavier! Spiel nie wieder da drauf, hör..du?"

Klavierspielen war falsch. Sehr falsch. Aber sie wollte nunmal! Hier war niemand mehr, der sterben würde!
Nai hätte nie so gesprochen. Nai hätte solche gemeinen Worte, nie gesagt!
"Du spielst doch selbst drauf! Geh weg, lass mich spielen!" "Schrei nicht so laut!" Nai würde auch nicht schreien! Nai war lieb zu ihr! "Geh weg! Geh weg aus meinem-mmmhhh!"

"Sag das nicht! Nicht diese Worte, nicht jetzt! Ich kann deinen Körper nicht die ganze Zeit übernehmen, versuch also zumindest, dich nicht absichtlich in Gefahr zu begeben! Du hast Hunger, oder? Da oben, auf dem Dach, gibt es was sehr gutes, geh hoch, ich zeig dir wie. Aber halt den Mund, schrei nicht rum."

Sie sollte sich nicht in Gefahr begeben. Machte er sich doch Sorgen um sie? Dann war er vielleicht gar nicht so böse und gemein, wie sie gedacht hatte! Sie nickte, blieb still. Der weiß Haarige ließ sie los, ging vor. Sie folgte ihm, wischte sich über die Augen. Oh? Hatte sie etwa geweint?

Nai zeigte ihr wie man hochkletterte, genau wie beim Apfelbaum davor. Das Dach war ganz rot, ein Monster lag bewegungslos neben dem Fenster. Sie wollte nicht weiter. Sie wollte zurück zum Klavier. Sie hatte eigentlich doch keinen so großen Hunger, nur Durst! Der Brunnen war doch sicher in der Nähe!

"Was ist? Du hattest doch schon so lange kein Fleisch mehr, vermisst das Essen von Zuhause, oder etwa nicht?"

Die gelben Augen sahen sie an, als der weiß Haarige dem Monster was abriss, es ihr reichte. "Zuhause, wo Fleisch und Gedärme von Tieren und anderen auf den Tisch kamen. Du unartiges Mädchen, wolltest die Tiere nie essen! Aber Fleisch wolltest du schon, nicht? Na los, iss!"
Der falsche Nai grinste, genau so wie der falsche Jiki gegrinst hatte. Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht. Sie wollte nicht!

"Mama? Warum bist du traurig? Warum guckst du so?"

"Oh? Scheint, als würdest du neue Kleidung brauchen. Aber erstmal musst du das hier essen. Wenn du das hier isst, werde ich stark genug, die ganze Zeit bei dir zu sein, dich zu beschützen. Also los, iss!"

Sie ging rückwärts, immer weiter, immer schneller. Sie wollte weg! Der falsche Nai hatte aufgehört zu lächeln, rannte hinter ihr her, griff nach ihr. Zu spät, sie fiel schon. Diese blöde Kopie war gemein! Er war doch gerade noch so nett, jetzt hatte sie sich wegen ihm in die Hose gemacht! Er sollte verschwinden. Er sollte verschwinden, er sollte raus aus ihrem Kopf!

Kira hatte nicht darüber nachgedacht, dass der Aufprall auf dem Boden wehtun würde, hatte überhaupt nicht nachgedacht. Jemand fing sie auf, pflückte sie ganz sachte aus der Luft, wie einen Apfel vom Baum. Nai war weg. Das Messer, war weg, lag noch oben auf dem Dach. Sie hatte es nicht mitgenommen. Gut so. Es war überhaupt nicht schön. Es war gar nicht schön!

"Was für ein nostalgischer Fang."

Sie sah nach oben, wollte wissen, wer sie gerettet hatte. Rote Augen, rote Haare, ein Lächeln im Gesicht. Falsch. Nicht echt. Nicht echt!
"Geh weg! Geh raus aus meinem Kopf, geh weg! Geh-"
Ein furchtbarer Schmerz an ihrem Kopf, alles wurde schwarz.

Sie wurde hin und her geschüttelt, wachte langsam auf. Nai stand da, weinte. Weinte, umarmte sie, weinte mehr, schüttelte sie weiter durch.
Das hier, war keine Kopie, sie wusste es. Das hier, war Nai. Kira fing selber an zu weinen, stimmte in die lauten, gefährlichen Töne des weiß Haarigen mit ein.

Owari No seraphWo Geschichten leben. Entdecke jetzt