Farben

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Wir blieben noch lange auf diesem Dachvorsprung sitzen und ich nahm die Aussicht in mich auf. Es war einfach unglaublich wunderschön.
Als die Sonne dann ihren Weg Richtung Süden einschlug, durchbrach Zara die morgendliche Stille: „Gehen wir zu Amy und Dean."

Ich nickte, obwohl ich am liebsten hier geblieben wäre.
Hier mit Zara.
Doch sie stand bereits auf und schlug den Weg zurück zu ihrem Fenster ein.

Ich folgte ihr, fühlte mich aber beim Balancieren auf dem Dach ganz anders als noch beim ersten Mal.
Die Kekse und der Ausblick ließen mich leicht und glücklich werden und so beschritt ich auch das Dach. Als wir am Fenster wieder angekommen waren, lachte Zara über mein breites Grinsen.

„Du siehst wie ein Smiley aus", behauptete sie.
„Na und? Smileys haben doch den tieferen Sinn Emotionen auszudrücken, in dem Fall wäre ich doch ein breit grinsender Smiley", entgegnete ich leichtfertig.

Daraufhin lachte sie noch mehr, antwortete aber nichts. Als wir wieder in ihrem Zimmer standen, sah ich mich heimlich um.
Ich hatte viele Details vorhin nicht gesehen, da ich von dem glitzernden Etwas abgelenkt worden war. So entdeckte ich jetzt erst, dass eine Wand in tausenden verschiedenen Farben bemalt worden war. Von jeder Farbe gab es jede Schattierung und jede Facette. Auf ein Streifen Himmelblau traf ein Rabenschwarz in Form von einem Paar Flügeln.
Ein Dunkelbraun traf auf ein Waldgrün.
Auf Hellorange ein Silbergrau.
Alle Farben verwischten zu Formen und Gestalten die beim genaueren Hinschauen erneut verschwammen und sich neu anzuordnen schienen.
Es wirkte, als wäre das Paar Flügel auf einmal keine Flügel mehr, sondern zwei Halbmonde die auf einen Baum herabschienen.
Ich runzelte die Stirn und kniff meine Augen leicht zusammen. Denn wenn ich nun noch etwas genauer die Malstriche betrachtete, sahen sie doch eher wie Fische in einem See aus.

„Hast du das gemalt?", brachte ich schließlich heraus, konnte meinen Blick aber nicht von der Wand lösen.
Zara stand neben mir, betrachtete ebenfalls die Wand mit den tausenden Farben, sagte aber nichts.

Bewegte sich der Baum im Wind? Oder war das vielleicht doch ein Berg?

„Komisch, dass sich innerhalb einer Sekunde Freiheit in Fesseln verwandeln kann, oder?", flüsterte Zara plötzlich und lief, bevor ich antworten konnte, die Wendeltreppe herunter und ließ mich vor der Wand alleine.

Verblüfft starrte ich ihr hinterher und runzelte verwirrt die Stirn.
Was meinte sie?
Mein Blick fiel wieder auf die Wand.
Und als ich genauer auf das Flügelpaar sah, die eigentlich das Freiheitssymbol verkörperten sollten, wirkten sie wirklich wie Fesseln.

Ich schüttelte meinen Kopf und wollte Zara folgen, als etwas in meinem Augenwinkel glitzerte. Das durchsichtige, glitzernde Etwas entpuppte sich beim näheren Hinsehen als eine Statue.
Einmal warf ich einen Blick über meine Schulter, um mich zu vergewissern, dass Zara mich nicht dabei ertappen würde, bevor ich auf die Statue zuging, um sie mir näher betrachten zu können.

Sie war wirklich aus Glas und wurde mithilfe von viel Arbeit und Liebe zu einer Gestalt geformt. Dünne, leicht gebogene Beine aus Glas, das eine wie eine Ballerina nach hinten ausgestreckt, der Oberkörper gerade. Das gläserne Gesicht sah so gedankenverloren aus, während die feinen Arme zu einem anmutigen Bogen über den Kopf geschliffen.
Die perfekte Ballerina.
Das Mädchen aus Glas, mit der Zara sprach, wie sie es in der Nacht zuvor verraten hatte.
Es war ein Meisterwerk der geschliffenen Künste. Ich musste kein Profi sein, um dies zu erkennen.

„Machst du Zara zu diesem Menschen, du Mädchen aus Glas?", flüsterte ich der Statue zu, stockte dann und schüttelte den Kopf. Wie lächerlich war ich denn, seit wann redete ich mit Statuen? Ich schüttelte weiterhin meinen Kopf und entschlossen drehte ich mich um, um mich auf den Weg zu den anderen zu machen.

Das Mädchen aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt